Vrîmuot ist Mittelhochdeutsch für Freimütigkeit und steht damit für eine Haltung, die Neuem offen und unerschrocken gegenüber tritt. Das klingt doch spannend, ist Neo Folk ja nun eher für Wertetreue und eine gewisse Rückwärtsgewandheit bekannt. Der Freimütigkeit zum Trotz stellt sich der Musiker hinter dem Projektnamen, T.S. aka Lupus Viridis, als großer Fan der damals sehr traditionell musizierenden Forseti heraus, die krankheitsbedingt aus der Öffentlichkeit verschwanden und der übersetzte Albumtitel 'Oh Zeiten! Oh Sitten!' klingt nun auch nicht unbedingt nach Erich Honneckers Ansage: "Vorwärts immer, rückwärts nimmer!" "Nur indem wir uns selbst reflektieren, können wir die Banalität des Seins überwinden, eine Flamme entzünden, die uns stärkt und wärmt. Eine Flamme der Hoffnung. Eine nie erlöschende Flamme." wird der Musiker im Promotext zitiert und er sieht sein Debüt als vertonte Streitschrift die sich "auf persönlichen Erfahrungen von Verlust und Wiedererlangen [...] aber auch auf die Moderne und ihre inhärenten Leiden beziehen [lässt]."Also lassen wir ganz schnell die Erwartungen auf Innovation hinter uns und schauen uns Deutschlands anscheinend vielversprechensten neuen Neo Folk Künstler mal genauer an.

Ja, es ist Folk. Sehr klassisch. Minimal instrumentiert. Traditionell. Klangtechnisch wurde auf eine sehr organische, analoge Aufnahmetechnik geachtet, alles fand in Eigenregie statt. Die minimale Instrumentierung klingt zunächst sehr angenehm rauh, die Trommeln sind eher schwach auf der Brust, es wirkt wie eine Live-Aufnahme, Garagen-Folk, wenig produziert. T.S. ist an keinem Instrument ein Ausnahmetalent, alles wirkt und ist selbstgemacht, mit leichtem Demo-Tape Feeling. Bei einer so zurückgenommenen Instrumentierung und Produktion müssen dann aber die Melodien etwas können oder die Texte aufregen – positiv oder negativ. Doch anders als beim großen Vorbild Forseti, die ja ähnlich stromlose Alben herausbrachten, ist bei Vrîmuot das Mitreißende in den Melodien wenig bis nicht vorhanden. Ganz weit weg von einem Überalbum wie 'Erde', fühle ich mich vielmehr an Darkwood erinnert, alles plätschert so dahin und nicht einmal werde ich berührt. Keine Melodie fesselt. Lagerfeuermucke, nett, aber schon oft und besser gehört. Und leider dauern die Titel immer über siebeneinhalb Minuten – viel zu lang dafür, dass fast nichts passiert. Die Samples wirken in der organischen Klangwelt fehl am Platz, aber im Neo Folk verwendet man sie eben. Hinzu kommt der Gesang von T.S. den ich einerseits loben muss, denn die Töne werden formidabel getroffen und seine Stimme ist sehr markant. Aber seine Stimme kennt auch nur einen Modus: bedeutungsschwangere Ergriffenheit. Diese Kombination aus unaufgeregtem, unbesonderen Folk und der immergleichen Gesangsart machen das Album zu einem musikalischen Memory und man hat bei jedem Titel irgendwann das Gefühl, dass man ihn gerade erst zuvor gehört hat. Unter Zwang würde ich "Nymphaea Alba" als Anspieltipp nennen, wobei mir die Wiederholung des Refrains nach über neun Minuten vorzüglich auf die Senkel geht.

Textlich hat T.S. das typische Neo Folk Konzept der konservativ klingenden, aber interpretationsoffenen Ungreifbarkeit noch einmal mehr auf die Spitze getrieben. Das Ergebnis ist derart themenoffen geglückt, dass man die Texte quasi auf alle Lebenslagen und Interessen übertragen kann. Nach rechts? Links? Früher war alles besser? Die letzte Steuererklärung? Naturromantik? Liebe? Aktuelle Politik? Die Texte sind dermaßen unspeziefisch, dass sie sich in Verbindung mit dem monoton-dramatischen Gesang leider nicht als spannende Rätsel oder Fundamente für Diskussionen erweisen, sondern als heiße Luft in kurzfristig anspruchsvoll anmutender Verpackung. Man braucht nicht nur die mittelalterlichen Holzschnitte und Runen, die im Booklet zu finden sind, um zu wissen, was T.S. im Sinn hatte – nein, man bräuchte ihn selbst. Aber gut, wenn man nicht zu genau hinhört, dann geht das schon in Ordnung.

Nein, ich glaube nicht, dass mir das Debüt von Vrîmuot gefällt. Alles klingt altbacken (zugegebenermaßen im Neo Folk noch nicht das Schlimmste), unbesonders und langweilig. Da war der Konsum der neuen Scheibe von Orplid musikalisch (und ich möchte das 'musikalisch' deutlich markieren) wesentlich reizvoller – da gab es zwar auch fast keine Spannung und den immergleichen Trott, aber immerhin entdeckte man bei jedem Durchlauf spannende Klangspuren. Sicherlich wird das Projekt Anhänger finden, aber ich wüsste musikalisch nicht wirklich, warum.

 

Vrîmuot

O Tempora, O Mores!

 

25.09.2020

prophecy productions / auerbach tonträger

 

https://www.facebook.com/Vrimuot/

 

01. Aufbruch
02. Nymphaea Alba
03. Palingenese
04. Erwachen
05. Wolfsangel
06. Ewiger Mond