Es gibt Momente im Leben, da braucht man es laut. Es gibt Momente im Leben, da braucht man es dreckig. Und es gibt Momente im Leben, da braucht man – Vanessa. Anders als der Name vermuten läßt, handelt es sich bei Vanessa nicht um ein 0190-Ruf-Mich-An-Girl, sondern um eine tschechische Männertruppe, die bereits im Jahre 1990 von Daniel Rodný (Elektronik) und Samir Hauser (lyrics, vocals) gegründet wurde. Nicht zuletzt durch für damalige Verhältnisse unerhörte Auftritte von „masochistischer Anziehungskraft“ (Zitat Presseinfo), bei denen das Publikum einerseits durch Stacheldraht auf Abstand gehalten, andererseits mit Pornographie und Massenmördern konfrontiert wurde, erreichte man in unserem Nachbarland so etwas wie Kultstatus unter den Industrial-Hörern. 1995 trennten sich die Wege Rodnýs und Hausers. Zusammen mit Miroslav Papež veröffentlichte Samir Hauser 1997 zwar noch das Album „Vanessa Gun“, doch danach war Sendepause. Erst 2007 kreuzten sich die Wege der zwei Protagonisten wieder und man beschloß zusammen mit Jakub Horák (operator, producer), Jaroslav Stuchlý (percussions) und erwähntem Miroslav Papež (analoge, digitale Instrumente, backing vocals) die alte Dame Vanessa erneut zum Leben zu erwecken. Das Ergebnis, produziert von Alexander Hacke (Einstürzende Neubauten), hört nun auf den Namen „Ave Agony“ und wird von Rodný tatsächlich als „Mainstream“ bezeichnet. Daß dies nicht allzu wörtlich zu nehmen ist, wird schon beim Anblick des Hochglanz-Digipacks klar, in welchem sich abgetrennte Körperteile und ähnlich leckere Fotos tummeln. Auch die Musik selbst dürfte den gemeinen Mainstream-Konsumenten wohl umgehend in die Flucht schlagen, denn bereits der Opener „Satanova pomsta“ macht mit seinen schnellen, brutalen Beats und Hausers Gesang, der die durchweg tschechischen Texte*) regelrecht auszuspucken scheint, keine Gefangenen. „Chci zmíznet“ oder „Fízl na speedu“ könnten einem bei aufgedrehter Lautstärke ebenfalls die Ohren wegpusten, aber was im ersten Moment ungezügelt und chaotisch aus den Boxen stürmt, entpuppt sich nach mehrmaligem Anhören als durchaus wohlstukturierter Mix aus Electro, Industrial und sägenden Gitarren. Beispiele hierfür sind das etwas gedrosselte, EBM-lastige „Ahoj, chcípní“ das geradlinig-elektronische „Zrcadla“ sowie das rockende „Nechténa magíe“, in welchem sich die Stimme Samir Hausers eher lauernd denn wütend präsentiert. Vanessa haben allerdings weit mehr drauf, als nur brachiale Töne zu produzieren. Dies zeigt sich zum einen an „Primitiv“, dessen Riffs sofort an einen Tarantino-Streifen denken lassen, zum anderen am LSD-getränkten, psychedelischen „Smrad z lídí“, bevor zum Schluß mit „Babylon“ noch einmal eine nervenzerfetzende, sechssaitige Disharmonie-Keule ausgepackt wird. Spätestens jetzt werden sich die Geister endgültig scheiden, sprich, der Finger wandert unverzüglich zur Repeat-Taste oder die CD fliegt auf Nimmerwiedersehen in die Ecke. Doch wie gesagt, es gibt Momente im Leben, da braucht man es laut und dreckig und für solche Augenblicke bietet Vanessa mit „Ave Agony“ genau den richtigen Soundtrack. ------------------------------------------- *) Für Textinteressierte, die des Tschechischen nicht mächtig sind, finden sich deutsche Übersetzungen im Booklet.