Rezensionen, die das umfangreiche Genre elektronisch erzeugter Popmusik abdecken, laden gerne zu Beginn eine ganze Rutsche sattsam bekannter Klischees auf den Leser ab. Zunächst wird von einer „unübersichtlichen Flut an Veröffentlichungen“ schwadroniert, gerne begründet mit der so korrekten wie sinnlosen Phrase, es könne heutzutage jeder „für wenig Geld Musik machen“, an die eine rhetorische Frage anschließt, die der Verfasser jedoch meistens schon vor dem Hören der ersten beiden Songs für sich beantwortet hat: „Kann die Band mit dem Album aus der breiten Masse hervorstechen?“ - „Nein, weil…“ Nichts läge mir ferner, als das Debütalbum der ungarisch-deutschen Kooperation „Ultranoire“ mit ähnlich luftleeren Allgemeinplätzen abzufrühstücken. Denn dafür haben sich die beiden Protagonisten Josef Stapel und Szilard Kun einfach zu viel Mühe gegeben, als dass die Besprechung ihres Albums „Disclosure“ mit einem Verweis auf die hörbaren Vorbilder Depeche Mode zu deren ruhigeren Phasen schließen müsste. Vladimir Romanov, umtriebiger Inhaber des russischen Labels Scent Air, hat mit seinem neuesten Signing erneut bewiesen, ein Händchen (oder Öhrchen) für un-mainstreamigen und gerade deshalb sehr interessanten Synthpop zu besitzen. Eines haben die Songs auf „Disclosure“ gemein: der Grundton ist durchweg melancholisch, die Lyrics selbst changieren dagegen zwischen den Extremen „Soundtrack zur Einstimmung auf einen Beerdigungsmarathon“ und „Hoffnungsfroher Sehnsucht nach einem friedlichen Leben, in dem es nicht mehr verpönt ist, öffentlich zu seinen Gefühlen zu stehen“. Denn gesetzt des Falles, ich würde diese CD im Beisein ach so cooler Gangsta-Rap-Fans zum Rotieren bringen, kämen spätestens beim schwelgenden „Leaving Sensoria“ unqualifizierte Kommentare wie „Ey Digga, wie schwul ist das denn?“ oder „Wo sind die Bitches?“ Im Unterschied zu den peinlichen Attitüden besagter Hip Hop-„Kultur“, glaubt man Sänger Josef allerdings jede gesungene Passage aufs Wort. Selten habe ich einen Sänger gehört, der mit soviel Verve und Inbrunst intoniert, ohne dabei theatralisch zu klingen oder übertriebenen Pathos anzurühren. Man achte auf die Feinheiten in der Stimme, die so manchen oktavenstarken (aber ausdruckslosen) Chanteur an die Wand singt. Natürlich spielt auch dieses 11-Song umfassende Debüt nicht konstant auf einem gleich hohen Level. Während das eingängige „Leaving Sensoria“, das tanzbare „Lost“ oder der Killerrefrain von „Desperation“ unzweifelhaft zur A-Klasse des Synthpops gehören, trägt mir „Perfect Time“ ein wenig zu dicke Untergangsstimmung auf („It’s a perfect time to die…. 7x) ;) Allerdings wendet der finale Track „Singularity“ das Blatt wieder zum Guten - hier vereint sich perfektes Songwriting mit Liebe zum Detail und vereinzelt eingestreuten, disharmonischen Sounds, die dem Klangbild das gewisse Etwas verleihen. Für klassische Depeche Mode-Fans dürfte „Drowning Man“ das größte Identifikationspotenzial bieten. Streute man dieses Lied in die Playlist einer dörflichen DM-Party ein, es würde garantiert nur unwesentliches Stirnrunzeln verursachen. Ich kann die Anfragen an den bemitleidenswerten DJ schon hören: „Alter, ist das was neues von DeMo?“ Um die Wahrscheinlichkeit des Auftretens solcher unangenehmer Zwischenfälle künftig zu minimieren, sollten alle Synthpop-Liebhaber dieses gute Stück Musikkunst schnellstens käuflich erwerben und ihren Freunden in Endlosschleife vorspielen. Um es mit den Worten Rudi Völlers zu sagen: „Wer spätestens nach dem dritten Hören von „Desperation“ nicht glücklich lächelnd mitsummt, hat die Musik nie geliebt.“ Zu erwerben gibt es das Album entweder digital oder als CD über Poponaut oder den Conzoom Records Shop.