An den Eindruck, den Tyske Ludder vor 12 Jahren erstmals bei mir hinterließen, erinnere ich mich noch genau. Damals, gerade 16 Jahre jung, hatte ich euphorisch einen kleinen Schnipsel aus einem bekannten Musik-Magazin ausgeschnitten, diesen in einen Briefumschlag gesteckt und 5 DM in Briefmarken – oder war es ein Schein? – dazugelegt. Nur wenige Tage später erreichte mich ein Brief des Labels KM-Musik, dem eine Mini-CD in einer schwarz-weißen Papphülle beigelegt war. Mit auf dem Silberling der damals brandneue Track von Tyske Ludder "Wie der Stahl gehärtet wurde", der kurze Zeit später auf dem aufrüttelnden "Bombt die Mörder"-Album veröffentlicht wurde. Hatte man diesen Song einmal gehört, liebte man ihn oder man mochte ihn nie wieder hören. In meinem Falle war es Liebe, denn mit "Wie der Stahl gehärtet wurde" tönte aus der damals noch kläglichen Anlage ein brachialer, kompromissloser EBM-Track mit einer markigen Stimme, die man nicht mehr vergessen konnte. Unangepasst, frech und anti-established wie man in jenem Alter nun mal war, wirkten die intelligenten, kritischen und oftmals schockierenden Texte von Tyske Ludder wie Öl, das ins Feuer gegossen wird. Nur ein Jahr später, 1995, kam dann schon der Nachschlag: "Dalmarnock", ebenfalls auf KM-Musik veröffentlicht, beschäftigte sich aufs neue mit brisanten Themen rund um Politik, Glaube, Religion, Macht, Gesellschaft, Krankheit und Tod. Den recht gitarrenlastigen Track "Monotonie" bekam ich nach dem ersten Hören nie wieder aus dem Ohr und kritzle ihn, wenn möglich, auch heute noch auf die Wunschlisten in manchen Diskotheken. Manchmal werde ich sogar erhört. Nur "Kroma", "Crack" oder "Grelle Farben" muss man sich wohl doch eher zuhause anhören. Nach der 1996 veröffentlichten "Creutzfeld" E.P. wurde es ruhig um die norddeutschen Mannen. Waren die Live-Auftritte Tyske Ludders damals schon ein rares Phänomen, trat etwas ein, das man auch Funkstille nennen könnte. Unstimmigkeiten innerhalb der Band, wie es mit Tyske Ludder weitergehen sollte und "kollidierende Interessenskonflikte" zwangen die Gruppe zur Betätigung des Ausschalt-Knopfes – oder, um es mit ihren eigenen Worten auszudrücken: "Die Hure wurde schlafen gelegt". Als das Quartett vor drei Jahren in Dessau auf der Bühne stand und nach eigenem Bekunden ein außerordentliches Konzert zum besten gab, beschloss man, wieder aktiv zu werden und an neuem Material zu arbeiten, das auf CD gebannt werden sollte. Mit "Sojus" (russisch: Vereinigung) haben Tyske Ludder nun eine Rakete abgeschossen, deren Schlagkraft ihresgleichen sucht. Schon nach den ersten Songs steht fest, dass die Band rein gar nichts von ihrer Aggressivität, Wut und Kompromisslosigkeit eingebüßt hat. Getreu dem Motto der CD "eine wertfreie Vereinigung aller kleinen und großen, persönlichen und gesellschaftlichen Desaster des neuen Jahrtausends" haben sich Tyske Ludder auf ein Neues mit brisanten, traumatischen und prägenden Ereignissen wie Themen intensiv auseinander gesetzt: Während etwa "Canossa" der verfehlten und Augenwischerei betreibenden Politik unseres Landes mit wortgewaltigen Zitaten den Garaus macht, versetzt sich Sänger Albert-X in "Schreie" in einen kranken, abartigen Kinderschänder und schreit sich seine perversen Gelüste in unfassbarerer Direktheit von der Seele. Mit "Khaled Aker" haben Tyske Ludder Themen wie Umsturz, Revolution und Terrorismus wortgewaltig umgesetzt: Das Kommando Khaled Aker der Roten Armee Fraktion zeichnete sich im September 1988 für den Mordanschlag auf Staatssekretär Hans Tietmeyer verantwortlich. Mag Khaled Aker heute Geschichte sein, braucht man sich nur die vielen einzelnen blutigen und traurigen Ereignisse im nahen Osten oder in Afrika vor Augen zu führen. Fast scheint es, als ob derartiges Elend nie ein Ende findet. Gewohnt streng gehen Tyske Ludder natürlich auch wieder musikalisch ans Werk. Harter Electro mit old school Anleihen, gepaart mit der rauen, wütend verzerrten und brüllenden Stimme von Albert-X fährt einem auch auf "Sojus" direkt durch Mark und Bein. Allerdings zeigt sich die Band diesmal wesentlicher experimentierfreudiger als auf den alten Alben: So wurden zunehmend weiche, harmonische, fast poppig anmutende Synthie-Passagen und atmosphärische Ambient-Parts in die Songs integriert. Trotz dieser für Tyske Ludder neuen Stil-Melange haben die Songs nichts von ihrer ursprünglichen Derbheit und Anziehungskraft eingebüßt. Nur ein klein wenig moderner sind sie geworden – denn auch "im Schlaf" arbeitet der Mensch und entwickelt sich weiter. Das futuristisch aufgemachte Booklet enthält sämtliche Song-Texte und ist gespickt mit denkwürdigen Zitaten von Geschichte schreibenden Personen oder Menschen mit besonderen Schicksalen. Außerordentlich erschreckend wirken die im jeweiligen Zusammenhang abgedruckten Passagen aus dem Koran oder dem deutschen Strafgesetzbuch. Schriftlich fixiertes, das einem die Tränen in die Augen treibt. Wer bei "Sojus" zur limited edition im edlen Pappschuber greift, erhält neben dem regulären Album noch eine zehn Tracks umfassende Remix-CD. Bands wie Feindflug, Noisex, Massiv in Mensch, Wertstahl oder Severe Illusion haben sich hierfür einige Album-Tracks vorgenommen und ihren eigenen Stempel aufgedrückt. Herausgekommen ist eine beeindruckende Zusammenstellung, die sich wirklich gelohnt hat. Besonders hervorzuheben sind die beiden Wertstahl-Remixe sowie die remixten Titel von Feindflug, Noisex und Severe Illusion. Lediglich der schier unaussprechliche SicScissorStickKillers Remix des Tracks Innenraum wäre nicht unbedingt nötig gewesen. Was hier über den Hörer hereinbricht ist ein nervenaufreibender, brutaler Metal-Sound mit Grindcore-/Deathmetal-Growls fiesester Sorte. Doch dieser kleine, unbedeutende Aussetzer kann den Gesamteindruck des neuen Albums nicht im geringsten trüben. Tyske Ludder haben sich mit einem Faustschlag zurück gemeldet, der sich gewaschen hat. "Sojus" ist ein großartiges Machwerk richtungsweisender elektronischer Musik, die auch hohen Ansprüchen problemlos gerecht wird. Wer sich zudem gerne mit brisanten politischen und gesellschaftlichen Themen auseinandersetzt, MUSS zu "Sojus" greifen. Bleibt zu hoffen, dass die Band ihre beklemmenden Botschaften bald wieder einmal live in die Welt trägt. Anspieltipps: Betrayal, Canossa, Khaled Aker, Bionic Impression