Ein richtig cooles Endachtzigeralbum findet dieser Tage seine Renaissance in Form einer echten Deluxe-Edition, die ihren Namen zurecht trägt. Von ‚Disintegration’ ist die Rede, dem Album das Lol Tolhurst endgültig von The Cure trennte, die Plattenfirmen intial so gar nicht überzeugen wollte und Robert Smith und seine vier Mitstreiter trotz Bedenken des Labels im Mainstream so bekannt machte, wie vielleicht kein Cure Album zuvor.

‚Disintegration’ vermag es den Hörer in weit entfernte, nebeldurchflutete Welten voller fremder Geschöpfe und vom rauen Wild zerklüfteter Landschaften zu entführen. ‚I think it’s dark and it looks like rain’ ist die erste Zeile des Openers ‚Plainsong’, als ob Smith mit diesem Satz das ganze Album beschreiben wollte! Nicht zuletzt aufgrund der epischen, cineastisch geprägten Songs in denen Smith so schön schluchzt wie nie zuvor, regt ‚Disintegration’ die Phantasie an und lädt ein sich auf dem Sofa zurückzulehnen und die traurig-schwirrenden, in den Vordergrund gerückten Wave-Flächen erneut lieben zu lernen. Vergessen ist der aufgekratzte Indie-Twist aus ‚Why can’t I be you’ oder die unterschwellige Fröhlichkeit aus ‚Just Like Heaven’, stattdessen spielt sich der major part des achten Vollwerks der englischen Vorzeige-Dark-Popper im unteren Beat-Bereich mit folkloristisch-geprägten Elementn ab, die die Traurigkeit britischer Highlands perfekt in Noten transportieren. ‚However far away, I will always love you’, das nimmt man Robert Smith ab. Textpassagen, die positive Inhalte in verzweiflungsträchtig melodiöse Melancholie einbetten. Zu ‘Lullaby’ braucht man kaum etwas zu sagen, denn dies ist einer der Songs, den nun mal jeder neben ‘Boys Don’t Cry’ kennt. Creepy, crawling als Äquivalent des Schlaflieds in der textlich entschärften Version, traut man sich nicht die Augen zu schließen, bevor man die Decke auch wirklich über den Kopf gezogen hat. Schon damals als über siebzigminütiger Zyklus angelegt, begeistert die Dichte der Sounds noch heute ohne jemals überfrachtet zu wirken. So authentisch klingt das, dass man mit trügerischer Sicherheit zu wissen scheint, dass Smith auch während er ohne die Band die Vocals eingesungen hat, allmorgendlich einen halben Kajal benötigte und einer Dose Haarspray den Atem ausgehaucht haben muss.

Smith höchstpersönlich setzte sich im letzten Jahr daran das Originale Album noch einmal zu restaurieren. Gut ist ihm dies gelungen, genauso gut wie das Neuabmischen der damals limitiert zu Charity-Zwecken veröffentlichte Live-Compilation ‚Entreat’. Als dritte Disc ist das Live-Album der neuen Edition zugefügt und enthält erstmals auch die damals aus nicht nachvollziehbaren Gründen ausgelassenen Lieder ‚Plainsong’, ‚Lovesong’, ‚Lullaby’ und ‚The Same Deep Water As You’. Erstaunlich professionell vorgetragen, sowohl gesanglich als auch instrumental ein Standard-Werk der Live-Dokumentation. Herzstück der Deluxe Edition ist natürlich die Rarities CD mit nicht weniger als zwanzig unveröffentlichten Demos, Studio-Versionen, Rough-Mixes und Outtakes. Das Beste kommt dabei gleich zuerst: Robert Smiths private Home Demos von ‚Pictures of You’, Fascination Street’ und ‚Prayers for Rain’, die erkennen lassen, dass die Songs sogar instrumental ohne echte Produktion strukturell und klanglich überzeugen. Schade dass hier einige Home Demos außen vor gelassen wurden, die man sich jedoch zumindest auf der ‚Disintegration Micro Site’ anhören kann, auf der weitere zwanzig rare Tracks zu finden sind.

Die Band-Demos sind von der Qualität her unterschiedlich. Teilweise recht dumpf – wie eben aus dem Probenraum - teilweise gut abgemischt. Alle Demos gemeinsam jedoch zeigen zusammen mit den anschließenden Studio Rough Versions gut den Werdegang der einzelnen Stücke bis zum finalen Album auf. Als besonderes Goodie ist dann noch die Coverversion des Judy Collins Songs ‚Pirate Ships’ enthalten, den Smith solo für einen anniversary release aufgenommen hat, welcher dann jedoch in den Archiven verschwand. ‚Disintegration Deluxe’ ist der full blown Ansatz ein essenzielles Album noch essenzieller zu gestalten. Selten ist ein Re-Release so umfassend und gut aufbereitet worden wie dieser. Und zu allen Überfluss ist auch das Artwork alleine schon den Kauf wert, denn ein Booklet in Digipak-Größe mit Lyrics, schicken Fotos und der Entstehungsgeschichte zum Album liefert einen weiteren echten Mehrwert.

Auch wenn die fehlende ‚Lullaby RS-Home Demo’ ein gaaaaanz klein wenig ärgerlich stimmt, sind für diesen Pack seit langem mal wieder sechs Sterne deluxe ohne schlechtes Gewissen zu vergeben. Wer sich in allen Facetten mit dem hier beschriebenen Werk auseinandersetzen möchte, sei auf die Microsite www.thecuredisintegration.com verwiesen, die Texte, Berichte, Demos, Live Tracks, Videos und vieles mehr in einem spektakulärem Design beinhaltet. Nachdem bereits der erste Satz zitiert wurde, muss nun auch noch der letzte genannt werden, denn der beschreibt vielleicht das, was der Hörer nach ‚Disintegration’ fühlt: ‚’I’ll never lose this pain, never dream of you again’…