War das nicht längst überfällig? Chris Pohl und seine Damen von Blutengel müssen sich warm anziehen, denn seit wenigen Monaten weht ein heftiger, kalter Wind aus Estlands Hauptstadt Tallin nach Berlin und durch die gesamte Republik. Dort gründete 2004 Musiker Dmitry das Projekt Suicidal Romance, das in seiner aktuellen Besetzung mit Sängerin Viktoria und Maarja (Synths) seit vergangenem Jahr existiert. Suicidal Romance müssen oder dürfen sich – je nach Sichtweise – auf den ersten Blick in vielerlei Hinsicht den direkten Vergleich mit der Berliner Dark Pop-Institution gefallen lassen. Das CD-Booklet und die Internetpräsenz des Projekts liefern erste optische Beweise: "Master of ceremony" Dmitry ist ein Herr mit weißen Kontaktlinsen und glatt gegeltem Haar im schwarzen Anzug, seine Gefährtinnen zwei bezaubernde Schönheiten, die eine mit feuerrotem Haar und edler Porzellan-Blässe im Nadelstreifenmieder, die andere hinreißend brünett in weißer Bluse und locker gebundener Krawatte. Die einstudiert wirkenden Posen sind verräterisch – das schreit geradezu nach einem Plagiat. Dann wäre da noch der gerade erwähnte Name: Suicidal Romance – eine selbstmörderische Romanze. Eine objektive Einordnung fällt schwer. Und da bekanntlich in jeden noch so einfältigen Namen ein tieferer Sinn hineininterpretiert werden kann, lassen wir diesen Vergleichsfaktor mal außen vor. So sei noch eine letzte Anmerkung zum optischen Erscheinungsbild, Stichwort Logo, erlaubt: Was den Blutengeln ihre Flügel sind, ist den Selbstmordromantikern aus Tallin die stolze Rose – das letzte Detail, um das Image rund zu machen? Und was spricht die Musik? Tatsächlich führt Mastermind Dmitry in Interviews mit einigen Szenemagazinen unbefangen Blutengel als ersten und wichtigsten musikalischen Einfluss an. Warum auch nicht? Ein Blick auf die Tracklist verrät, dass Chris Pohl seinen Nerz wieder ablegen kann. Der heftige kalte Wind entpuppt sich als sanfte warme Brise. Für den Track "Not alone" steuerte er gar selbst einen Remix bei. Statt sich das Revier streitig zu machen, scheinen die beiden Bands im Geiste, vielleicht sogar inzwischen freundschaftlich eng verbunden. Blutengel-Fans sowie Liebhaber emotionsgeladener, sehnsuchtsvoller Dunkelromantik können einen neuen darkstar am Gothic-Himmel aufgehen sehen. Damit beim Debüt "Love beyond reach" auch nichts schief geht, holte man sich quasi als "Rundum sorglos-Paket" Labelkollegen und Electropop-Zar Vasi Vallis (Frozen Plasma/Reaper) ins Boot, der den Sound mit klar erkennbarer Handschrift veredelte. Das ist ihm – chapeau – wieder einmal glänzend gelungen: "Love beyond reach" überraschen vom ersten Ton an auf ganzer Linie! Wer (boshaft oder ängstlich gesinnt) bestenfalls Durchschnitt oder gar eine "minderwertige" Kopie des "Originals" erwartet, dem wird zwangsläufig ein ungotisches Freudestrahlen (= freudig überrascht) oder zumindest ein Anflug von Überraschung (= ehemals boshaft) über das Gesicht huschen. Suicidal Romance haben ein rundum stimmiges Album mit einigen großen Hymnen abgeliefert. Natürlich sind die großen musikalischen und textlichen bzw. thematischen Parallelen zu Blutengel offensichtlich. Doch hier wurde nicht geradewegs platt kopiert, sondern höchstens ein wenig abgeschaut und nach Anknüpfungspunkten gesucht. Die Klischees stimmen auch hier, keine Frage. Doch wo sich die Vorbilder seit Jahren erfolgreich beständig um die eigene Achse drehen, ist das Trio bereits mit dem Debüt einen Schritt weiter gegangen. Abwechslungsreich und fast durchweg dancefloororientiert macht das Album gehörig Dampf, einige kleine Ruhepausen (beispielsweise das himmlisch-verträumte "In this night [lullaby]") und eine feine Pianoballade inklusive. Während Chris Pohl seit jeher mit den schwachen Stimmchen seiner Damen zu kämpfen hat, setzt Viktoria mit ihrem kraftvollen, klaren und emotional berührenden Gesang Maßstäbe im Dark Pop-Genre und bügelt damit auch die kleineren Schwächen der mitunter doch etwas zu stark an Herrn P’s orientierter Stimmführung von Dmitry aus. Offenbar nicht ohne Grund hält sich dessen Vokaleinsatz auf dem Album glücklicherweise auf erträglichem Niveau und rückt damit Viktoria in das Zentrum der Aufmerksamkeit. Mit kräftiger Unterstützung durch die DJs der Nation dürften Titel wie "Not alone", "Star" (sowie deren starke Remix-Versionen) und "Prince of darkness" zügig die Clubs erobern und zu gefragten Titeln werden. Wenn dann bald eine Tour nachgelegt wird, steht der rasch wachsenden Popularität des – den dreisten Style-Klau mal außen vorgelassen – sympathischen Trios nichts mehr im Wege.