Sturm Café hatten mit ihrem Debut den Vogel abgeschossen. 'So seelig, so schön' bot nicht nur gelungenen EBM, sondern sorgte mit seinen Texten, die klangen, als ob sie mithilfe eines Computerprogrammes aus dem Schwedischen ins Deutsche übersetzt wurden, für zahlreiche Fragezeichen und Schmunzler. Man machte sich einen Namen, sorgte provokant für Aufsehen, man tourte und trennte sich 2010 sogar kurzzeitig. Und nun halte ich 10 Jahre nach dem ersten Album 'Europa' in den Händen. Es ist echt, es ist wahr, es ist Sturm Café. Die Zerissenheit, die Unklarheit - Sturm Café wussten wohl selbst nicht, was und wohin sie mit ihrer Band wollen.

Dennoch entstanden in den Jahren einige Songs, die bei den Albumaufnahmen um weiteres, neues Material erweitert wurde. 'Europa' klingt zumindest wie das Ergebnis einer Zeit der Suche und wird erst durch die einheitliche Produktion zu einem Gesamtprodukt. Inhaltlich und musikalisch erinnert das Album eher an eine Compilation mit einzelnen, voneinander unabhängigen Beiträgen. Mal witzig, locker, beschwingt und poppig, mal altmodisch, hart und straight. Mal retro und minimal, mal basslastiger und moderner - 'Europa' bietet eine Eigenschaft, die man nicht häufig im EBM findet: jede Menge musikalische und textliche Abwechslung und Kurzweiligkeit trotz einer Masse von 14 Songs. Texte und Samples sind erneut nahe am Rande des Wahnsinns. Ich kann mir gut vorstellen, dass die Verwendung falscher Artikel eher Prinzip als Zufall ist und dennoch sind Granaten wie "Scheissnormal" ein Riesenspass (den ich mal ohne Gewähr rausgeschrieben habe): "Ich geh' zu Industrie und treffe die Kameraden. Wir arbeiten so hart, wir lieben kalten Spaten. Am Abend gehn wir los, wir sind zack zack betrunken, die Frauen sind mit uns, doch sind sie alle schwanger.

Mit dreißig hat man Haus und eine Menge Kinder. Sie machen viele Krachs, man wundert was ist los. Man trinkt das Alkohol und trinkt auf alte Zeiten, wenn wir waren jung und alle die begleiten.... [...] Ich bin ein scheißnormaler Mann..." Thematisch deckt man alles ab, was im EBM seit 100 Jahren Mode ist und verbindet die Themen mit passenden melodischen Stilen: Wir haben oberkörperfreie Tanzmusik, die "Stark, schön und elegant" ist und sich gut mit der oben genannten Normalität verbindet. "Feuer und Eisen" ist ein kleines "Warm leatherette", die großartige " Koka Kola Freiheit" konsumkritischer Minimalpop. "Ich habe eine Ansicht" hat viel Text... Liedermacher-EBM? Weltpolitische "Sicherheit"smaßnahmen, geschichichtliche Exkurse ("Europa" und "1632"), dezente Daseinsphilosophie bei "Das Ende", Konsumkritik.... Und wenn sie nur oberflächlich drüberhorchen, können auch diejenigen zufrieden sein, die Sturm Café nicht für provokant sondern für rechts halten: SS Runen sind im Logo geblieben, Europa ist ein Thema, das auch gerne im Neofolk aufgegriffen wird und "Kriminelle und Kommunisten" werden in einem Sample auf eine Stufe gestellt. Wie gesagt: ein oberflächliches Urteil. Es ist viel Zeit vergangen und Sturm Café bringen mit 'Europa' ein Stück Musik heraus, dem man diese Jahre anmerkt.

Dankbarerweise haben sie sich die beiden Eigenschaften bewahrt, die im besten Sinne für sie sprechen: Ein Händchen für feinen und nicht zu monoton in alten Traditionen hängenden EBM und lyrischer Wahnsinn, der unernst/ernst/obskur/anarchig/provokant/uneindeutig/stumpf/vielesmehr sein kann, nie aber dumm. Dann noch eine ungewöhnliche Kombination: sie sind verdammt professionell und transportieren dennoch die anarchistische Tollheit labelloser Newcomer. Diesem 'Europa' muss man unverkrampft und mit Humor entgegentreten, wird dann aber belohnt. Und so benennt es der tolle Abschlusstrack perfekt "Der Löwe ist zurück".