Kaum zu glauben, aber das seit dem 14ten März erhältliche „Von Rosen und Neurosen“ ist bereits das fünfte Studioalbum von Stillste Stund. Oliver Uckermann schrieb, komponierte und sang in Zusammenarbeit mit Birgit Strunz „eine erlesene Sammlung grausamster Alpträume“ ein, zwölf Alpträume sind es an der Zahl und Kennern des Projektes ist bereits jetzt klar – zurücklehnen und mit dem Booklet in der Hand im stillen Kämmerlein genießen ist angesagt. Wie bereits die Vorgängeralben brauchen auch die neuen „Rosen und Neurosen“ Geduld und Mühe, vielleicht wird der Hörer sogar noch ein klein wenig mehr gefordert als bisher. Drei Jahre ist es her, daß das „Blendwerk Antikunst“ fesselte und mit diesem Werk hatte Uckermann die Messlatte fast schon unerreichbar hoch angesetzt – wie kann man an ein solches Werk anschließen, wie die Stillste Stund, die Geschichte von Alice wieder aufgreifen und fortführen ? Drei Jahre sind aber eine lange Zeit, vor allem wenn es um ein Projekt geht, daß keinen Zeitverlust in Form von Live-Auftritten zu verbuchen hat. „Von Rosen und Neurosen“ ist es anzuhören, daß sich Uckermann für jede Minute, jeden Satz und jeden Ton Zeit genommen hat – das Album wirkt abgeschlossen und (nahezu) perfekt. Und es wirkt auch schwieriger, nicht so leicht greifbar wie der Vorgänger. Auf Musik im eigentlichen Sinn wurde noch ein Stück mehr verzichtet, Sprechpassagen und ruhige Momente dominieren noch viel stärker als bisher. „Käfigseele“ führt langsam in die CD ein, ein ruhiges Intro das jäh durch zerbrechliche Vocals unterbrochen wird die wiederum durch energiegeladenen Gesang Uckermanns unterbrochen werden. Der Hörer ist nun hoffentlich bereit und das erste „richtige“ Lied folgt : „Viktor“ ist ein traumhafter Song mit typischer, verschrobener Stillste Stund Instrumentierung (irgendwo zwischen Kammerorchester und Wave) und eine Text, der für einige Schmunzler sorgen wird. Großartig, wie die Geschichte um Viktor Frankenstein für einen augenzwinkernden Song verwurstet wird, alles klingt so normal, ja auch so verständlich und ich pruste immer noch meinen Morgentee aus, denn „...Viktor hat ein Gehirn mitgebracht“. Anspieltipp, definitiv und unbedingt. Was auf dem „Ursprung Paradoxon“, dem zweiten Album des Projektes begann und auf dem letzten Album seinen Lauf nahm wird nun zu einem Ende gebracht - „Alice Teil III“ und nun ist sie entgültig tot. Die befremdliche Geschichte des kleinen Mädchens wird nicht nur auf dem regulärem Album beendet sondern erfährt in der limitierten Version einen besonderen Platz. Siehe weiter unten mehr. Der dritte Teil selbst greift wieder die altbekannte Melodie auf, wobei sie aber immer weiter verfremdet und pompöser aufgebauscht wirkt. „Tiefenritt“ ist das poppigste und „netteste“ Lied des Albums. Die Vocals von Birgit Strunz sind wunderschön, die Instrumentierung sehr wavig-schwelgend und die Drums sind recht peppig. Der Titel ist definitiv tanzbar und würde vielleicht auch mal in Diskotheken eine Chance bekommen (wobei man als Stillste Stund Fan inzwischen daran gewöhnt ist, daß der DJ schnöde nö sagt). Das folgende „Kammerspiel“ fand ich am Anfang wirklich anstrengend und nicht gelungen. Zwei Wochen später, also heute, da ich diese Review schreibe, habe ich das Lied ungefähr 50mal gehört. Die Melodie kreist wieder und wieder in meinem Kopf und der Text vom wirr-süchtigem Verlangen nach dem Spiel „Russisch Roulette“ fesselt mich und hat mich selbst süchtig gemacht. Allein die Textzeilen aus dem Refrain „und ich spüre, ich bin Abzug, ich bin Schlaghahn, ich bin Lauf – muss man nicht alles einmal ausprobiert haben ?“ erzeugt eine unglaubliche Atmosphäre. Großes Kino als Anspieltipp Nummer 2. Der nächste Song ist wieder näher am Wave, fast schon ruhiger Elektro kommt da aus den Boxen und „Sternenwacht“ ist eine romatisch-kitschige Geschichte mit schöner Melodie – wie schon der „Tiefenritt“ ist der Songaufbau und die Instrumentierung durchaus dazu geeignet, das Tanzbein zu schwingen. „Speichel. Laub und Saitenspiel“ ist mehr Geschichte und Theater (für die Ohren) als Musik, anstrengend, düster und schräg. „Heidnisch Barbastella“ liegt irgendwo zwischen Erzählung und Song und will mir nicht so gut gefallen. Vor allem der zur Mitte des Liedes einsetzende weibliche Beschwörungs-Gesang nervt doch sehr. Der „Marsch in Unschärfe Verlorener“ kann aber nach diesem einzelnen Ausrutscher wieder begeistern. Von der stimmungsvollen Sirene zum Beginn, den für einen Marsch typischen martialischen Trommeln und den gekonnt eingesetzten Chören passen alle Zutaten zusammen und der Hörer nimmt förmlich an diesem Marsch teil. Doch es kommt noch besser, denn „die Hure Babylon“ ist ein unglaublicher Knaller, ein Reigen aus harten Drums, wirren Melodien und vollkommen hysterischen Vocals. Wäre nicht eine sehr ruhig Passage zur Mitte des Liedes wäre „die Hure Babylon“ das Tanzflächenlied meiner Wahl (naja, wahrscheinlich wird es das denoch). Mitreißend, genial, Anspieltipp Nummer 3. „Der galaktische Zoo“ ist wieder ein Erzähl-Lied, die Geschichte ist wieder spannend und faszinierend. „Licht frisst Stille, schwarz frisst Licht“ beendet die Alptraumsammlung ähnlich ruhig wie sie mit der „Käfigseele“ begann. Das Album klingt langsam und stimmig aus, man kann wieder in den Alltag hinaustreten. Aber einiges aus dieser Stunde Hörgenuß wird hängenbleiben. Oft wird man die CD nehmen und sich nocheinmal mit den Geschichten und Melodien auseinandersetzen. Gegenüber dem Vorgängeralbum, das um einiges eingängiger war, haben die Texte ein klein wenig Qualität lassen müssen – nicht inhaltlich und eigentlich auch nur minimal, aber der verstärkte Umbau der Grammatik zugunsten des Reimschemas fällt zuweilen auf und wenn man die Vorgängeralben kennt weiß man, daß das früher schon etwas besser geklappt hatte. Vielleicht ist es aber auch ein gewolltes Stilmittel und ich bin ein Korinthenkac... der nach Fehlern sucht, wo keine sind. Die Käufer der limitierten Auflage erhalten diesesmal ein besonders schönes Schmankerl : „Alice : Projektionen, Reflexionen, Variationen“ fasst die drei Teile der Geschichte in überarbeiteter oder ungekürzter Form noch einmal zusammen, fügt Prolog, Zwischenspiele und einen Epilog mit ein. Außerdem gibt es zwei gesprochene Stücke und einen Remix des dritten Teils. Dieser stammt aus den „Reglern“ von Das Ich und vereint die typischen Elemente beider Projekte gekonnt zu einer düster-wütenden Elektrowalze. Die EP ist vor allem für Fans von Stillste Stund gedacht, die Alice bereits „liebgewonnen“ haben und nun alle Teile vereint auf einer CD anhören können. Was wäre Stillste Stund ohne ein Merkmal, daß bisher absichtlich wenig erwähnt wurde : die Vocals von Uckermann selbst ? Einfach unglaublich, was hier auf dieser CD geboten wird. Es erscheint fast unmöglich, aber die gesangliche (bzw. sprachliche) Leistung hat sich gegenüber dem Vorgängerwerk nocheinmal gesteigert. Uckermann erscheint auf den Bookletfotos doch eher anständig und unscheinbar, doch wie er ins Mikrophon wimmert, flüstert, schreit – das alles scheint schon fast nicht von dieser Welt. Dabei wirkt seine Leistung aber nicht übertrieben und/oder lächerlich, denn er schafft es auch in den schrägsten Passagen die Texte gut und hochwertig vorzutragen. Und so ist es ein Genuss, sich allein auf de Stimme einzulassen und allein ihr einen oder mehrere Durchläufe zu widmen. Für die Fans des Projektes war diese Review wahrscheinlich nicht nötig – sie kaufen die CD hoffentlich blind und sie werden auch nicht enttäuscht werden. Allen, die sich bisher nicht mit Stillste Stund beschäftigt haben sollten sich auf jeden Fall Zeit investieren. Vor allem Fans von Projekten wie Goethes Erben oder auch Sopor Aeternus sollten sich schleunigst mit Stillste Stund auseinandersetzen, ach egal – alle, die gerne mal Gruftimucke mit Gehörgangsknotengarantie und guten Texten hören wollen sind hier richtig. Nicht nur, daß diese CD ihr Geld musikalisch und textlich wert ist, sie ist außerdem endlich wieder eine CD, der man die Mühe und Arbeit, die in sie und vor allem den Inhalt investiert wurde, anmerkt. Denn das Artwork ist gelungen und das Booklet schön anzuschauen, aber viel wichtiger und wertiger ist die Musik selbst und diese kann für sich alleine problemlos alle Tests bestehen. Und das ist gut so in einer Zeit, in der immer mehr viel zu schnell und lieblos produzierte Musik unter labelbedingtem Zeitdruck auf die Käufer gejagt wird.