Anna-Varney Cantodea entführt mich in die düstere Nacht zu einem neuen Reigen obskurer Tonkunst. Fern der Moderne geht diese wundervolle Musikerin ihren eigenen Weg. Und war er auch einige Jahre für mich steinig, so folgte ich konsequent und immer in der Hoffnung, reich beschenkt zu werden. Zuletzt war es ‚Poetica‘ und damit ein ganz wundervolles Geschenk. Nun treffen wir uns nur ein Jahr später an ‚Mitternacht‘ wieder und ich kann mich vor Aufregung kaum halten. Alben von Sopor Aeternus wirken wie eine Reise durch die Seele von Anna-Varney und so ist jedes neue Kapitel auch Zeugnis der Veränderung im Erleben dieser Person, die immer fern, aber doch so nah wirkt. Die mit Poetica angekündigte Ruhe, Stille und Sanftheit wird auf ‚Mitternacht‘ noch deutlicher vertont – wie einer Zeitreise erlebe ich beim Lauschen Gefühle wie zuletzt bei ‚Dead Lovers‘ Sarabande (Face 1 & 2)‘ und ‚Songs from the inverted womb‘: Kammermusik, alle unnötigen Elemente über Bord werfend und sich auf wenige Instrumente konzentrierend. Es wird eine ungemein friedliche Melancholie geschaffen, die mich direkt im Herzen berühren. Ein vollständiger Rückschritt ist der Sound aber nicht: Elektronische Elemente der letzten Jahre und (im Sopor-Rahmen) poppige Ausgelassenheit verbinden sich mit Cembalo, Bläsern, Streichern und Glockenklängen. Auf ‚Mitternacht‘ findet sich eine Fülle wundervoller Seltsamkeiten. Einige Coverversionen wie der Sonny & Cher Klassiker „Bang Bang“, das Grundschemas des „Carnival of Soul“ oder das aus Twin Peaks bekannte „Into the night“ wurden wundervoll soporisiert. Das düstere „The boy has built a catacomb“ ist die wohl deutlichste Zeitreise 15 Jahre zurück, „You cannot make him love you“ eine verzweifelte Selbstoffenbarung, die mich ein wenig an das "Drama der Geschlechtslosigkeit" erinnert. Bei „If you could only read my mind“ zeigt sich wieder, dass Sopor Aeternus für eine unnachahmliche Verbindung klassischer Elemente und Elektronik stehen, die man so wohl nirgends finden kann. ‚Mitternacht‘ erscheint mir eher als Sammlung verschiedener Stücke, ist nicht so kompakt und ineinander übergreifend wie ‚Poetica‘. Doch ist der Qualität ungemein hoch trotz geringer Zeit zwischen den beiden Alben. Und dann ist da noch „Beautiful“. In meinen Ohren wohl eines der schönsten Lieder, die Anna-Varney in all den Jahren geschaffen hat. Ein unglaublicher traurig-versöhnlicher Text trifft auf eine hauchdünne, zarte Melodie, die zerbrechlichst und absolut genial instrumentiert die Tränen in die Augen treibt (man achte nur auf die Veränderung in 4:30, so sanft, so dezent und doch so wirkungsvoll). Eine Kommentierung der Verpackung fällt 2014 verhalten und knapp aus: Es ist so gar nicht mein Fall, so ein Sopor Comic… dieser schon gar nicht. Das dazu passende Shirt mit Comicmotiv habe ich mir erst gar nicht gegönnt – nein, bei diesem Thema will ich nicht allzu lange verweilen, sonst schmälert es meinen ansich begeisterten Eindruck. ‚Mitternacht‘ ist ein musikalischer Pflichtkauf für Fans, kein so perfektes Gesamtkunstwerk wie ‚Poetica‘, aber leichter zugänglich und prallgefüllt mit Melodien für lange, düstere Winterabende. Danke, Anna-Varney und auf bald.