Seit wenigen Tagen steht das neue Album von Rotersand in jedem gut sortierten Plattenladen. Bereits der ungewöhnliche Titel „1023“ sticht ins Auge. Die Zahlenkombination kann von Einfallslosigkeit oder einer gehörigen Portion Tiefsinn zeugen. Wer sich bereits intensiv mit dem Schaffen der Band befasst hat, der weiß, dass es sich nur um das Zweitgenannte handeln kann. Hinter „1023“ verbirgt sich ein kleines Erlebnis mit großer Wirkung, das zu einer bleibenden Erinnerung und großen Inspiration geworden ist. Das Trio landete während seiner Amerikatour mit einem Hotelfahrstuhl in der untersten Etage. Das Problem dabei war, dass es aus diesem Raum keinen Ausgang mehr gab und keinen Handyempfang. Nach einigen Stunden wurden die Musiker aus ihrem unfreiwilligen Gefängnis befreit. In das Zimmer mit der Nummer „1023“ wollten sie nie mehr zurück. Die komplette Geschichte könnt ihr in den nächsten Tagen in dem von mir geführten Kurzinterview nachlesen. Dann kennt ihr die Hitnergründe zu „1023“, ich möchte jetzt die musikalische Umsetzung bewerten. Vorweg gesagt: meine Erwartungen an einer Platte von Rotersand sind enorm hoch. Bisher haben die Jungs ordentlich vorgelegt und ich bin da ziemlich verwöhnt. Rotersand hat bisher mit jeder Platte einen Schritt nach vorn getan, ohne sich dabei selbst zu verlieren. Dass sie auch dieses Mal neue Wege gegangen sind, wurde mir schon bei der Record Release Party im Darkflower klar. Die Songs überraschten mich bereits damals und faszinierten mich gleichermaßen. Meine Neugier auf „1023“ wuchs. Als ich den Silberling dann endlich vor wenigen Tagen in meiner Player legte und ungeduldig auf die Play-Taste drückte war die Spannung riesig. Ich ließ „1023“ einmal komplett auf mich wirken. Es wurde schnell deutlich, dass dieses Album nicht zu jenen gehört, die einen sofort einnehmen, sondern viel mehr seine wahre Schönheit mit der Zeit entfaltet. Ich musste mir mehrere Tage Zeit nehmen, um das Gesamtwerk auch als Gesamtwerk erfassen zu können und musste feststellen, dass dem Trio mit „1023“ die Schwierigkeit gelungen ist, aus 12 starken „Persönlichkeiten“ ein beeindruckendes Ganzes zu formen. Das erinnert mich an Edge Of Dawn. Der Band ist mit „Enjoy The Fall“ eben solche Seltenheit auch gelungen. „1023“ beginnt mit dem gleichnamigen Stück, das auf mich eine gewisse Strandromantik ausstrahlt. Lagerfeuerstimmung und ein verträumter Sänger mit seiner Gitarre. Ein wunderschöner Beweis dafür, dass man als begnadeter und erfolgreicher Musiker der Elektroszene auch noch etwas mit echten Instrumenten anfangen kann. Damit ist nach gut 3 Minuten aber vorerst Schluss. Ein deutlicher Schnitt und mit „Rushing“ hat man nun wieder echten Boden unter den Füßen. Man spürt förmlich, wie das Trio wieder aus dem Fahrstuhl steigt. Zurück in der Realität. Der Song bedient sich der schnelleren, tanzbaren Gangart gepaart mit einer gewohnt vielschichtigen, verspielten Melodieflächen und der rauchigen bisweilen hypnotischen Stimme Rascals. Auch die beiden folgenden Stücke „Don’t Know“ und „Lost“ sind ganz Rotersand, ohne dass jedoch ein Titel dem anderen gleicht. „Don’t Know“ finde ich den ungewöhnlichsten Song auf dem Album, vergleichbar mit dem Status von „Would You Buy This?“ auf „Welcome To Goodbye“. Ein relativ statischer Grundbeat, der von Rascal vergleichsweise temperamentloser Intonation verstärkt wird. Ganz anders dagegen die Vorabsingle „Lost“. Sie zeichnet sich durch den „gemeinen“ Ohrwurmvirus aus. Einmal im Kopf, verlässt der Song dich den ganzen Tag nicht mehr. Ohne es abwertend, stattdessen anerkennend meinend: eine charakteristische Singleauskopplung. Ein tanzbarer Beat, eine eingängige Melodie mit einprägsamem Refrain und dennoch Längen über einem Niveau des umstrittenen Dauerbrenners „Straftanz“. Natürlich fehlen auch nicht die ruhigeren und balladesken Nummern. Kein Album ohne Ballade, die große Leidenschaft Rascals. Es sind wieder zwei wunderbare Stücke entstanden: „I Am With You“ und „The Gods Have Gone Insane“. Die Stimmung wird hauptsächlich von Rascals Stimmung transportiert, die Musik rückt in den Hintergrund. Das Lieblingsstück des Sängers „I Cry“ ist im Midtempobereich einzuordnen. Auch Krischan hinterlässt an einem Titel besonders deutlich seine Handschrift. „Shelter“, das stark an „Storm“ erinnert, ist einer der wenigen instrumentalen Songs und gleichzeitig der technoideste und treibendste des Albums. Aber all diese Titel, jeder einzelne, verschmilzen zu diesem typischen Rotersand-Stil. Ja, ich glaube man kann von einem Rotersand-Stil sprechen. Das Trio hat sich hartnäckig, selbstbewusst und systematisch seinen eigenen Sound kreiert. Drei Vollblutmusiker, die vielschichtiger nicht sein könnten, haben ihre Fähigkeiten zusammengetan und einen Sound geschaffen, der sich kontinuierlich weiterentwickelt und doch diesen Wiedererkennungswert behält. Wunderbar. Wie Rascal es schön bei unserem Interview sagte: „Wenn man ein neues Album fertig hat, ist das wie nach einer Geburt.“ Auf dieses Baby können Rotersand wirklich stolz sein. Ein Blick in das Booklet lohnt. Nicht allein wegen der Tiefgründigkeit der Texte, nein, Rotersand haben sich in diesem Fall sogar die Mühe gemacht und zu jedem Song eine kurze Erklärung zur Entstehungsgeschichte verfasst.