Es ist schon eine Weile her, dass ich ausgesprochen verdutzt war von einer Promo – das immerhin möchte ich den Retrojunkies aus Niedersachsen anrechnen, wenn auch nicht zu hoch, denn ich erwischte mich dabei, nachzusehen, ob es sich um eine Fake-Band der Marke Fraktus handelt. Aber nein, sie meinen es wohl Ernst: Thomas „8Bitjunkie“ Schulz, Iris Rufer und Jenny Erdmann sind laut Homepage süchtig nach dem Lebensgefühl, der Musik und dem Zeitgeist der 80er, sie wollen mit ihren Texten tief berühren und mit ihrem Stil „Neuer Dunkler Retro“ quasi den goldenen Schnitt aus Darkwave/Pop und Dunkelromantik produzieren. Ich gebe zu, zumindest gespannt war ich schon. Und was soll ich nach einigen Durchläufen sagen? Mein ‚Computer sucht Liebe 2.0‘, aber ich habe starke Zweifel, dass er sie bei den Retrojunkies finden wird.

Den Sound der vorliegenden Scheibe würde ich im Bermudadreieck aus Welle:Erdball, Witt und Chartpop vermuten, dem ich eher 90er als 80er Anteile unterstelle. Und das Ganze dann auf Amateurniveau mit schweren Problemen bei den Vocals und Texten. Doch der Reihe nach: Die Musik des Trios ist vollkommen in Ordnung, etwas zu klar produzierter Elektro Pop, der durchaus an Projekte erinnert, die den 80ern huldigen, aber mit stumpfen Beats wie bei „Durch die Nacht“ eher an Eurodance erinnern. Aber insgesamt sehe ich hier die größte Stärke des Projektes – die Melodien sind zweckmäßig und wurden nett und solide umgesetzt. Wie gesagt, die größte Stärke. Und grundsätzlich würden die gedachten/vermuteten Gesangslinien mit guten Sängern dieses nette Fundament aufwerten. Leider können weder Thomas noch Iris gut singen. Oder schön. Thomas raunt viele Texte wie eine dünn-fisselige Version von Witt, ein Sprechgesang, der an den Beginn von „Ich liebe dich“ der Clowns und Helden erinnert und mich herausragend anstrengt. Wenn er singt, dann wird es überraschenderweise etwas besser. Nicht, weil er die Töne immer trifft, aber es klingt einfach weniger nervig, mehr unscheinbar/unbesonders. Iris macht ihre Sache deutlich besser, aber gut ist das eben nicht. Sie trifft deutlich mehr Töne, es fehlt jedoch Stimmgewalt oder wenigstens eine professionelle Produktion, um Fülle zu suggerieren. Abgemischt sind die Vocals mal zu laut, mal zu leise – in jedem Fall stellen sie für mich einen der beiden Hauptkritikpunkte dar. Der zweite sind die Texte, denn was soll das sein? Ich habe das Gefühl, dass die Retrojunkies eine Kapelle sind, die eher empowernde Aufbaukurse für eine ältere Generation produzieren, die die letzten 20 Jahre verpasst hat. Auch hier finde ich die Liebeserklärung an die 80er missverständlich, denn ich erlebe die Inhalte eher in den 2000ern, als das Internet kam und die Computer immer mehr Möglichkeiten für den Alltag und die Kommunikation mit sich brachten. Das klingt mal nach Kraftwerks Computerwelten in bieder und 40 Jahre zu spät, dann wieder nach Witt, Illuminate oder schlimmeres aus der Schlagerhölle und die Hörspiel-Parts sind der gnadenlose Tiefpunkt, da sie so trashig amateurhaft eingesprochen wurden, als ob Tante Gisela und Onkel Rolf den Text grad in die Hand gedrückt bekommen haben und das Script unvorbereitet vorleiern (zu finden zum Beispiel in „Herz aus Chrom 2“). Um die Form zu wahren, geht man bei „Wir Kinder der 80er“ aufs Ganze und zeigt, dass man eigentlich diese Epoche besingen wollte – und in diesem Text finden sich die Hauptideen der Retrojunkies und damit ihr Manko: „doch gefehlt mal ehrlich gefehlt hat uns nix“ und „das war das jahrzehnt / mit den besten ohrgasmen / denn damals gab es musik / die man noch heute gut hören kann / also in diesem sinne mit / ilja richter: licht aus spot an“ Abgesehen davon, dass Herr Richter 9 der 11 Jahre der Sendung ‚disco‘ in den 70ern moderierte, kann ich mir gut vorstellen, wie Thomas bei einem geselligen Abend im Partykeller nach dem zweiten Bier ganz nostalgisch wird: Früher war eben noch alles besser, man benutzte seinen Kopf, denn „die telefonnummern unserer freunde kannten wir damals alle auswendig“ und die Musik war so schön, dass er sie bis heute gerne hört. Aber war wirklich alles besser und muss man auch noch betonen, dass man früher „zigeunerschnitzel und negerkuss“ sagte? Zumal es in einer Aufzählung mit ansonsten deutlich positiv konnotierten Begriffen besungen wird. Und zum Artwork fallen mir zwei Dinge ein: 1) wurde Matrix 1999 gedreht (und das gruselig zusammengeschobene Bild bestätigt damit den Eindruck, dass die Band die letzten 40 Jahre stumpf vermischt und das Konzept vergisst) und 2) ist es dennoch deutlich besser als das Cover vom Debüt: Schaut euch mal auf der Homepage das Artwork von ‚Neuland 1.0‘ an – ich sehe da einen Herren, der die notwendige Distanz nicht wahrt, sondern ohne Einvernehmen Neuland beschreiten will.

Ich fasse zusammen: Musik, die ich eher dem Future/Elektro Pop der 90er und 00er zuordnen würde, ein Gesang, der um Unterricht und Produktion fleht und Texte, die in meinen Ohren nie den Bereich zum Fremdschämen verlassen und bisweilen nicht nostalgisch, sondern vielmehr reaktionär klingen: ich halte dieses Album für ganz ganz gruselig und möchte es wirklich nicht mehr hören. Und selbst wenn sich die Band musikalisch und gesanglich weiterentwickelt und auch wirklich den Sound der 80er treffen und huldigen sollte, so hoffe ich inständig, dass ich noch lange nicht das Bedürfnis habe, so rückwärtsgewandte und biedere Texte zu schätzen. Es tut mir leid.

 

Retrojunkies

Computer sucht Liebe 2.0

 

20.11.2020

Eigenproduktion

 

https://www.retrojunkies.de/

 

01. Computer sucht Liebe
02. Die Vision
03. Durch die Nacht
04. Schöne neue Welt
05. Wir Kinder der 80er
06. Dein Paradies ist hier
07. Die letzte Wahrheit
08. Herz aus Chrom 2
09. Der Weg
10. Messer im Rücken
11. Wiedersehen
12. Die Vision (Remix Frozen Plasma)
13. Dein Paradies ist hier (Remix Hertzinfarkt)
14. Die letzte Wahrheit (Remix ES23)
15. Der Weg (Remix TOAL)