Justament ballern mir die Berliner Electro-Aktivisten wahrhaftig noch alle Relais durch! Keine dreizehn Monate ist es her, da präsentierten die ästhetischen Außenseiter ihr empathisches Assoziationskunstwerk "Baustoff" & eröffneten uns nach einer tonalen Diktatur des Proletariats, gänzlich neue Lebenswelten zwischen Blutgerinnsel an der Pressluftramme & dem Sonnenaufgang auf einer mit Gänseblümchen übersäten Wiese. Ein Album das als Kontrapunkt zum Einerlei der Electro-Plattenbauten polarisierte, welches statt auf Vorhersehbarkeit auf die Integration von "Gastarbeitern" im Popavantgarde-Sound nebst Freilandhaltung von MP3s als höchste Form der Demokratie setzte & damit etliche Todesstreifen der Szene-Kritik überwand. Keine Frage, dass da nun der Erwartungsdruck für Album Nummer 6 bei Minimum 100 bar liegt...

Die Tracklist von "Verbundstoff" liest sich zuerst nicht gerade orgasmusverdächtig, es scheint eine der wohl inzwischen üblichen Remix-Abkömmlinge zu sein. Eins, zwo neue Tracks zwischen eingekaufter Push-up-Kreativität. Doch Pustekuchen... Einmal eingelegt geht die Scheibe ziemlich vergleichslos ab! Diese Freaks sagen Goodbye zum Absolutismus, erschaffen auf einem Fundament aus Bass, Vierviertel-Beat & hypnotischen Effekten ein grandios furchtloses Album, das klingt, als hätten Nick Bracegirdle, der frühe Christopher von Deylen, Garry "Gaz" Cobain, Bill Leeb, Aphex Twin & Graeme Shepherd gemeinsam bei ein paar Mollen Pils die Geräuschkulisse rings um die Baustellen im Kiez als Klangkollage eingefangen. Fremd, neuartig, vertraut, anders. Eine (inzwischen) untrennbare Verbindung all dessen was man aus 13 Jahren Patenbrigade kennt. Herzstück "Voyage" knallt einem, im Club Mix ohne jegliche Spur von Rührseligkeit, gleich doppelt entgegen & ersteht quasi frisch als ein geschicktes Spiel zwischen Harmonien & Dissonanzen. Dem noch ein Genre-Etikett aufzukleben wäre in etwa so als wollte man versuchen, eine Achterbahnfahrt nachzuerzählen.

Dagegen hat sich die Perle von Produzentenlegende Olaf Wollschläger beinahe recht gemütlich in den einstmals abgesteckten Soundgrenzen eingerichtet. Die Breakbeat-Nordlichter Rypzylon & Weaselson slicen taktvoll die Sentimentalität aus dem "Neverland", mit Hartung & Schleinitz rammt sich André Hartung ein weiteres Projekt in die Vita & eine treffliche Portion Testosteron in "Das Kraftfeld". Wer schon immer mal wissen wollte wie z.B. OMD mit einer Frontfrau klingen könnte, der hat am "Fragrance" was Italo-Warmblut SaraLux am ollen Ultrawolff hinterließ seine helle Freude & die GoJA Moon Rockah betreiben immens spektakulären Vortrieb in die Hüfte. Das ist "Popmusik für Rohrleger"! Da darf man dann auch schon mal Tagwerk der Klempner-Gilde mit einem fetten Grinsen beschreiben & die "Arbeit am Rohr" herrlich infantil kolportieren.

Und genau in dem Moment, indem man dieses Album als einzigartiges Almanach der Electronica bezeichnen mag, kommt Stefan Leukert & macht unplugged den "Fehler 404" zur atemberaubenden Indie-Pop-Hymne aller vom Pech verfolgten Netzwerker. Sex, Crafts & Soundscapes... insbesondere Letztere sind die signifikanten Trademarks von Sven Wolff. Wer vielleicht dachte, er hat nun ganz simpel nur die Texte weggelassen, wird abermals überrascht sein vom explosiven Einfallsreichtum in Sachen Klangforschung voller Ignoranz für Trends & jenseits von Gefälligkeit. Schwebende Sounds, dubbige Beats mit popkulturellem Verweisgut wachsen mittels rhythmischem Noise zu sphärischen Trips in allen denkbaren & undenkbaren Klangfarben. Jeder Instrumental-Track für sich ist hier ein akustisches Ereignis, das mit jedem Mal an Struktur gewinnt, aber nie seine Wucht verliert. Eine nachgerade körperliche, eine sinnliche Erfahrung. Und einen stimmungsvolleren Albumausklang als "Nachtschicht" & "Schlusslicht" hätte man wohl kaum hinbekommen können.

Wer gegenwärtig einer Verbindung von Trademarks & Rückblicken noch nichts Visionäres abgewinnen kann, wem Klassenkämpferisches hier womöglich sogar zu kurz kommt - der erinnere sich kurz an den 22. Juni 1974 im Hamburger Volksparkstadion. Schon damals überraschte eine Berliner Außenseiter-Mannschaft mit drei Streifen auf dem Trikot & dem Händedruck-Emblem am Revers. Sie kehrten als Volkshelden zurück... obwohl es bei dieser Fußball-Weltmeisterschaft nicht einmal halb so viele Farbkombinationen in Sachen Merchandising gab, wie bei der Limited Collectors Box dieses Albums !-)