Moment. Nochmals genau hinschauen. Parade Ground, die belgischen Parade Ground? Die Brüder Pierre und Jean-Marc Pauly, die anfänglich weniger durch ihren innovativen, minimalistischen Cold Wave/Electro Sound, als durch die regelmäßige Zusammenarbeit mit Daniel Bressanutti alias Daniel B. und Patrick Codenys von Front 242 (PG sind für die Vocals auf "06:21:03:11 Up Evil" verantwortlich, einiges PG-Material wurde sogar auf dem ehemals Front 242 eigenen Label Mask veröffentlicht.) sowie Colin Newman (Wire) bekannt wurden? Obwohl Parade Ground bereits 1982 gegründet wurde, ist "Rosary" nach "Cut-up" aus dem Jahre 1993 erst das zweite (!) Album (und die erste Veröffentlichung des noch blutjungen Labels Sleep Walking Records), in dem mehr als 20 Jahre harte, unermüdliche Arbeit stecken – erneut produziert von niemand anderem als Patrick Codenys. Wer Parade Ground noch aus Zeiten kennt, in denen "Strange World" (auch vertreten auf der absoluten Kult-Compilation "This is Electronic Body Music" von 1987), "Hollywood" oder das Debüt-Album "Cut-up" erschienen, werden beim Anhören von „Rosary“ womöglich erstaunt aufblicken und -horchen. Einmal davon abgesehen, dass "Rosary" in seiner Konzeption alles andere als ein "gewöhnliches" Electro-Album ist, mögen die 30 Tracks auch so gar nicht zu den Titeln von früher passen, die man vielleicht noch im Ohr hat. "Rosary" lässt sich in gewisser Weise in zwei Hauptteile splitten: in das 15 Titel umfassende Hauptsongmaterial sowie in Kurz- bzw. Interimsparts, die allesamt mit Rosary betitelt und von eins bis 15 nummeriert sind. Wie ein roter Faden ziehen sich diese oft nur wenige Sekunden dauernden, rein instrumentellen Zwischenstücke durch das Album und bauen von Titel zu Titel eine neue (Stimmungs-)Brücke. Allein an dieser ungewöhnlichen fragmentarischen Konstruktion merkt man schnell, dass die Zeit nicht spurlos an den Pauly-Brüdern vorbeigegangen ist. Es scheint sich eine Menge an (negativen) Erlebnissen und Erfahrungen angesammelt zu haben, die im Hier und Jetzt ein Ventil und ihren eigenen Ausdruck suchten – ein (letztes) rebellisches Aufbegehren? Die einstige Parade Ground-Vergangenheit, der typische Sound ist vielleicht nicht vergessen, zumindest aber nicht mehr aktuell, denn "Rosary" ist alles andere als leicht verdaulich. Das Album gleicht einem Experiment, das nicht einmal darauf abzielt, bis ins Detail verstanden zu werden. Es mutet bisweilen collagenartig und soundtrackartig an, in keinem Titel findet der klassische Songaufbau Vers-Refrain-Vers Anwendung. In einem stetigen Wechselspiel zwischen vibrierender Entspannung und lärmender Kakophonie vermischen sich dominante, militante, stark an die Anfänge des EBM erinnernde Rhythmen, noisige, verzerrte Industrialsequenzen, Maschinengetöse, Samples klassischer Orchesterklänge und hypnotisch-monotone Vocals. „Rosary“ gleicht einem Blindflug über beschauliche Landstriche, verlassene Schlachtfelder und marodierende Städte. Bedrückend, verstörend und unvorhersehbar reihen sich die Titel, denen hier und da ein verwundbarer Charme der deprimierenden Post-Punk-Attitüde innewohnt, aneinander, unterbrochen und gleichzeitig verbunden durch die "Rosary I-XV"-Geräuschsplitter, die immer wieder aus der Gedankenreise herausreißen und kurz innehalten lassen. Es scheint, als haben Pierre und Jean-Marc Pauly bewusst auf Tanzbarkeit und Club-Orientierung sowie jegliche Art musikalischer Anbiederung verzichtet. Einige Freunde alter Parade Ground-Stücke werden mit "Rosary" genauso wenig anfangen können wie gestandene Front 242-Anhänger. „Rosary“ ist komplex, undefinierbar und gewöhnungsbedürftig, vielleicht aber auch gerade deswegen so herausfordernd. Den leichtesten Zugang zu diesem sehr ehrlichen und irgendwie einer kleinen Sensation gleichenden Album könnten diejenigen finden, die gern im Industrial-, Dark Ambient- und Ritual-Umfeld von Cold Meat Industry zuhause sind.