Bei der Auswahl der zehn Scheiben, die mir am wichtigsten sind, stellte sich recht schnell heraus, daß verdammt viel aus dem Bereich (Black)Metal in meiner Kopfliste nach vorne drängt. Denn auch wenn ich in den letzten Jahren fast ausschließlich CDs aus dem Gothik/Elektro/NeoFolk Bereich gekauft habe, so ist doch diese eine Musikrichtung diejenige, die mich am meisten begeistern kann (zumindest ein kleiner Teil der Musiker aus dem Bereich). Wenn es um extravagante deutsche Raserei geht, so lieferten sich Lunar Aurora und Nocte Obducta in meiner geheimen Beliebtheitsskala immer einen heißen Kampf. Zumindest bis 2002 – denn dann ließen die Mainzer Nocte Obducta die „Galgendämmerung“ auf die Hörerschaft los und schufen die meiner Meinung nach beste deutsche Black/Darkmetalscheibe (irgendwann hörte ich auch mal NeoBlackmetal, aber egal). Alle bisherigen Trademarks der Band wurden auf diesem Album veredelt und auch wenn der Zweitling „Taverne“ bereits einen extrem hohen Suchtfaktor innehielt, so ist die Galgendämmerung eben doch ein klein wenig runder und perfekter. Doch was macht Nocte Obducta aus? Es ist das perfekte Zusammenspiel aus hartem, schnellen, breaklastigen Blackmetal, gut produziert aber räudig klingend (hier wird der Hörer nicht mit Bombast a la Dimmu erschlagen sondern man bekommt mit schrillen Gitarren eins übergebraten) und einem hohen Anspruch an den Hörer – dies zeigt sich in den Kompositionen, die eben nicht old-schoolig geradlinig daherdümpeln sondern alle paar Sekunden die Richtung ändern. Vor allem sind es aber die Texte, die Nocte Obducta zu etwas besonderen machen. Komplett in deutsch geschrieben schuf Bandkopf Marcel Va. Traumschänder Geschichten, die man immer wieder lesen kann, die auch ohne die Musik Spaß machen können. Die Texte wurden von Torsten (der Unhold) eingekreischt, der auf der „Galgendämmerung“ so schrill, „harpienartig“ und gut klang wie nie (und da er sich auf den folgenden Alben umorientierte und deutlich tiefer kreischte/gurgelte klang er auch nie wieder so gut). Dabei ist seine Keifen so hysterisch, wahnsinnig und mitreißend, daß ich einfach sagen muß: diese Vocals gefallen mit im Blackmetal Bereich eindeutig am besten (sogar noch besser, als die eines im Gefängnis sitzenden Counts). Eingeleitet vom Intro „Fruchtige Fäulnis“, das wohlig morbide Stimmung verbreitet und dessen Text im Kopf hängenbleibt („Herbstlaub will ich sein auf euren immergrünen Frühlingsrasen, Urnen sollen bersten, angefüllt mit euren leeren Phrasen“) beginnen 50 Minuten anspruchsvolle Raserei. „Der Durst in meinen Augen“ ist das Lied, was ich immer und immer wieder höre, wenn ich mich mal nicht so prall fühle – allein das instrumentale Vorspiel, das fast drei Minuten dauert, macht klar, daß hier Herren spielen, die die Instrumente nicht zum ersten mal in den Händen halten. Die Gitarren sägen gnadenlos alles nieder, Bass und Keyboard sorgen für ein stimmungsvolles Fundament (wobei die Keys nie die Melodiegeber sind, außer in den seltenen reinen Keyboardparts) und die Drums sind schlichtweg genial. Pfeilschnell, fehlerfrei und mit hohem Wiedererkennungswert. Krass und fantastisch. Dann setzt die Hauptmelodie ein, die Band wirft noch ein paar Kohlen in den Ofen: Schneller, härter und denoch mit einer extrem gut ausgearbeiteten Melodie. Die Vocals völlig fern der Realität, getrieben, verzweifelt, sie schneiden durch Mark und Bein und kämpfen erfolgreich gegen die geniale Instrumentalfraktion an. Die Melodien wechseln immer wieder, langsame Parts, Raserei, unvorhersehbare Breaks. Das Lied ist abwechslungsreich und nicht einschätzbar, klingt aber zu jeder Zeit logisch und gut. Das perfekte Vorzeigebeispiel für verzweifelten Blackmetal, echte Fans werden zustimmen, daß man damit die nordischen Horden/Idole locker toppt... Aber ich bin lieber leise, weil das keine true Aussage ist. „Eins mit der Essenz der Nacht“ ist auch so ein Brocken. Sind die Texte von Nocte Obducta grundsätzlich bemerkenswert, so ist mir die Erzählung über die Nacht und ihre drei Töchter (Dunkelheit, Verborgenheit und Stille) besonders ans Herz gewachsen. Ein genialer Text, eingebettet in einem stimmungsvollen Lied, daß auch wieder pfeilschnell und doch unendlich gefühlvoll ist. Über die gesamte Spielzeit des Albums findet sich kein Ausfall, die Lieder sind kreativ, gut produziert und der Wiedererkennungswert, an dem heute 80% der Blackmetalbands scheitern, ist riesig. Eine ganz eigene Spielart und Songstruktur. „Spiel mir ein Frühlingslied am Friedhofstor“ ist ein herrlich rasender Titel und ein genialer Songname. „Wenn nur im Tod noch Frieden liegt“ beendet die CD. In zwei Teilen werden über 10 Minuten noch einmal alle Register gezogen und im zweiten Abschnitt klingt die CD immer mehr aus. Ach, verflucht, was soll man sagen? Ich habe Nocte auf Festivals gesehen und oft standen hirnfreie Blackmetaller der „Burzum“-Fraktion vorne und brüllten die Band nieder. Im Netz wird oft gesagt, daß ihre EP „Schwarzmetal“ das einzig gute ist, was sie hervorgebracht haben (Welch eine Farce, da diese CD in Mono und völlig räudig eingeprügelt wurde und mit Liedertiteln wie „Fick die Muse“ und dem Untertitel „Ein primitives Zwischenspiel“ klargemacht wurde, wie viel es für truen Blackmetal braucht...). Und nach den beiden tollen Nektar Alben löste sich die Band auf, weil die Hörer gegen die Entwicklung waren und lieber reißerischen Blackmetal forderten. Es ist eine Schande, denn so vermisse zumindest ich heute diese Band in der Musiklandschaft, die mit Marcel einen der kreativsten Songwriter der gesamten Szene vorzuweisen hatte, der es außerdem schaffte, geniale Musiker um sich zu scharen.