Auf Kristin Hayter und ihr Solo-Projekt Lingua Ignota stieß ich durch die Empfehlung von Amanda Palmer, also eine der für mich wichtigsten aktuellen Musikerinnen, wenn es um lyrische Inhalte und Botschaften geht. Ich versuchte mich am Debüt ‚Let the evil of his own lips cover him‘ und fühlte mich ähnlich dem Moment, als ich das erste Mal [Haus Arafna] oder das einzige Werk von Aghast hörte: Ich war in Mark und Bein bewegt, erschüttert, verstört. Die Verarbeitung einer traumatisierenden, gewaltvollen Beziehung hatte die klassisch ausgebildete Frau angetrieben, ihr „Umbekannte Sprache“ übersetztes Projekt zu initiieren. Die Intensität der überlangen Stücke, die musikalisch oft bedrohlich, aber eigentlich zerbrechlich wirken und immer wieder durchzogen sind von Schreien oder drückenden Störgeräuschen – das packte mich und ich gönnte mir auch die Folgewerke ‚All bitches die‘ und ‚Caligula‘, letzteres wohl der Einstieg in die Welt der größeren Öffentlichkeit.. Aber ich gestehe – auch wenn ich beide Werke für sehr gut befinde, ich war nicht so ergriffen, nicht so bewegt – es mag vielleicht daran liegen, dass das Schockierende am Erleben der häuslichen Gewalt glücklicherweise nicht unendlich rezitierbar ist.

Nun ist das vierte Album draußen und Hayter zeigt uns, was ihr coronabedingter Rückzug in das bibelfeste Pennsylvania mit ihr und ihrer Einstellung zum Thema Glauben auch im Hinblick auf ihr Schicksal mit ihr gemacht haben. Und diese Zeilen können als Indiz dafür gelesen werden, dass mich Lingua Ignota wieder bewegt hat. Denn ‚Sinner get ready‘ ist eine finstere Abrechnung, die textlich (wie jedes der Alben) bewegend ist, das mich aber auch musikalisch wieder berühren kann. Mit dem Piano im Mittelpunkt und vor allem dem sehr homöopathischen Einsatz von natürlichen Instrumenten ist ‚Sinner get ready‘ ein eher stilles Album geworden. Vergangen sind auch die Tage der zermürbenden Schreiattacken, Hayter besinnt sich auf ihren wunderbaren Klargesang in Verbindung mit zahlreichen Samples aus dem bibelfesten amerikanischen Fernsehen. Dadurch wirkt das Setting etwas friedlicher, als aber den bisherigen Veröffentlichungen, wir sind aber weit entfernt von einem Feelgood Album. Denn Lingua Ignota ist Musik, die nicht gefallen will, die nie bequem ist und die keineswegs einlullt. ‚Sinner geht ready‘ ist eine Abrechnung mit der Kirche und erneut Männern, die Gewalt ausüben. Und in jedem Moment, in dem das Projekt doch eigentlich nett, schön klingt, in dem die Instrumente melodisch spielen und Hayter klassisch, zum Teil hoch, singt, wird man das Gefühl nicht los, das einem die Bedrohung, die insbesondere auf den ersten beiden Alben so lebendig war, jetzt kalt im Nacken sitzt. Und nach einem starken Einstieg (mit den ersten beiden Titeln) und einem nur guten Mittelteil sind es die letzten vier Titel, die das Werk zu einer intensiven Erfahrung machen – hört nur einmal die Entwicklung von „Man is like a spring flower“ an mit seinem etwas dissonanten Gesang zu Beginn und dem wundervollen und immer intensiver werdenden Zauber, der folgt und schließlich in den letzten Sekunden in einer übersteuerten Bedrohung endet. Wahnsinn.

Ich würde Lingua Ignota unbedingt in die Liste der Projekte aufnehmen, die man kennen sollte und ‚Sinner geht ready‘ ist zusammen mit dem Debüt das Album der Wahl, um zu beginnen. Vielleicht ist es sogar das geeignetere Album, außer man will den Schmerz, braucht den Schock. Ich freue mich über die Entwicklung weg von elektronischen Sounds hin zu natürlicheren Klängen, die gut mit Hayters variabler Stimme harmonieren (auch wenn es nicht harmonisch zugeht) und schätze die Ergänzung des Themas Religion in den Reigen Missmut schaffender Themen. Lingua Ignota ist ein unbequemes Projekt, das Zeit und Aufmerksamkeit erfordert – nehmt euch die Zeit, egal aus welcher Musikrichtung ihr eigentlich kommt, lasst die Musik auf euch wirken, lest die Texte. Das zumindest hat Hayter definitiv verdient.

 

Lingua Ignota

Sinner get ready

 

06.08.2021

Sargant house / cargo

 

https://linguaignota.bandcamp.com/album/sinner-get-ready

 

01. The order of spiritual virgins
02. I who bend the tall grasses
03. Many hands
04. Pennsylvania furnace
05. Repent now confess now
06. The sacred linament of judgment
07. Perpetual flame of centralia
08. Man is like a spring flower
09. The solitary brethren of ephrata