In bunten Pastellfarben leuchtet das Debut-Album „Gestrandet“ eines Musikers, der sich Leichtmatrose nennt, aus meinem CD-Stapel. Tatsächlich - das Artwork könnte von dem homosexuellen Fotografen-Paar Pierre et Gilles stammen und ich denke unweigerlich an den nächsten Christopher-Street-Day, dessen Soundtrack hier auf einen Silberling gepreßt sein könnte. Beim ersten Anhören scheine ich damit auch gar nicht so falsch zu liegen. Netter, immer auf der Kitsch-Klippe balancierender Elektropop schallt aus meinem Lautsprecher und pendelt sich irgendwo zwischen NDW und Rosenstolz ein. Ob süßlich-balladesk wie „der mond trägt ein trauriges gesicht“ oder fluffig-rhythmisch wie „studentenfutter“, der Leichtmatrose weiß offenbar, wie man Lieder schreibt, die ins Ohr gehen. Und, ja, mit dieser Mischung wäre „Gestrandet“ eigentlich die ideale Hintergrundbeschallung einer angesagten Gay-Party.... ...eigentlich – denn spätestens beim zweiten Durchlauf fällt einem das Prosecco-Glas aus der Hand. Was singt diese einlullenden Stimme??? Über rosarote Liebe und Herzschmerz, wie zu erwarten wäre? Weit gefehlt – sie singt vom alltäglichen Wahnsinn in unserer ach so zivilisierten Gesellschaft. Der Mann weiß, wovon er spricht, hat er doch in seiner beruflichen Laufbahn als Drogenberater und Bewährungshelfer genug Erfahrungen mit menschlichen Abgründen gesammelt. Und deshalb werden uns alle möglichen bitteren Geschichten in simplen Reimen vor den Latz geknallt. Familiendramen („in wahrheit gelogen“), Magersucht („sexi ist tot“), emotionale Vernachlässigung („vom esel im galopp verloren“) oder einfach nur verwöhnte Studenten, die mit politischen Ideologien spielen („studentenfutter“), nahezu kein Thema wird ausgelassen, das nicht fast täglich die Schlagzeilen der Gazette mit den vier Buchstaben bestimmt. Ob Andreas Stitz, so der bürgerliche Name des Leichtmatrosen, es deswegen sogar zu einem Interview mit genannter Zeitung geschafft hat, ist allerdings fraglich. Wahrscheinlicher ist eher die zeitliche Nähe des Amoklaufs von Winnenden (15.März 2009) mit dem Erscheinen dieser CD, obwohl der betreffende Titel „junge von nebenan“, welcher in das Seelenleben eines jugendlichen Amokläufers eintaucht, bereits wesentlich früher aufgenommen wurde *). Wie dem auch sei, die Mischung aus Popmusik, die ihre Nähe zum Schlager nicht verleugnen will, und krassen Lyrics zündet bei den meisten Songs und könnte vielleicht den einen oder anderen Partygänger doch mal zum Nachdenken bringen. Dies hat wohl auch Joachim Witt, selbst kein Unbekannter in Sachen direkte Texte, erkannt. Er hat den Leichtmatrosen auf myspace entdeckt und unter seine Fittiche genommen. Gemeinsam mit den Produzenten Sebastian Hackert (Fettes Brot, Deichkind) und Jeo Mezzei (Nena, Falco) ist mit „Gestrandet“ ein musikalisch ausgereiftes Werk entstanden, welches durch seine Glätte die spitzen Botschaften des Leichtmatrosen eben nicht kuschelig verhüllen mag, sondern umso gnadenloser hervorkehrt. ---------------------------------------------- *) Hierzu die Anmerkung der Promotion-Agentur Add-on-music: „Natürlich ist ein Song wie „Junge von nebenan“ im Nachklang der Ereignisse von Winnenden provokant und für viele sicher auch schmerzhaft, doch dass die Realität den Songtext einholt konnte keiner ahnen, die Veröffentlichung war bereits seit Monaten geplant. Unabhängig davon ist der Leichtmatrose ein Künstler, der ganz bewusst die Dinge beim Namen nennt und auch unbequemen Wahrheiten eine Stimme verleiht.“