Jesus, Maria und Josef. Was habe ich mich blenden lassen von meinen durchaus positiven Erinnerungen an das letztjährige 'Neumond'. Joachim Witt hatte mich überzeugt mit einem Album netter Schlagerelektronik, das zwar musikalisch bekannte Gewässer durchschipperte und textlich wie immer zugleich schmerzte und gefiel, doch irgendwie kamen da einige gute Nummern heraus. Als es nun also um die Besprechung vom 2015er 'Ich' ging, kannte ich keine Scheu und rief ohne nachzudenken: Hier! Tja... Und nun... 'Ich' ist schwermütig, düster und begleitet von einer so ganz anderen Stimmung als 'Neumond'. Trennungsschmerz, Wut, Enttäuschung, Erfahrung & Resume im Alter und ein endgültiger Abschied von der Mutter - solche Themen bestimmen weite Teile des Albums und es fällt mir schwer, ob der vermutlich schweren Phase, die Witt durchgemacht hat, harsch zu kritisieren, doch ist 'Ich' an vielen Stellen eine schwer zu ertragende Gurke. Musikalisch herrscht dieses Jahr dezente Zurückhaltung vor: passé sind vorerst die schmissigen und opulenten Arrangements mit Schlagerbeat und treibenden Refrains. Das Album wird beherrscht von dezenten, ruhigen Stücken, die (vor allem im Vergleich) minimalistisch instrumentiert vieles missen lassen, das zumindest mir bei Witt immer half, über die Texte hinwegzutänzeln. So aber bleiben zumindest bei mir nur zweimal Melodien hängen („Über das Meer“ und „Hände hoch“, wobei bei zweiterem der Text meinen Genuss schwer hemmt). Der Rest ist nicht kollossal schlecht, aber wenn bei „Was soll ich dir sagen“ ein unangenehm hoch gesungener Hintergrundgesang den restlichen netten Song zerstört, der Refrain von „Warten auf Wunder“ einfach nur schrecklich ist oder man sich bei „Lagerfeuer“ und „1971 oder ein Mädchen aus Amerika“ in den letzten wachen Minuten fragt, warum man das hört oder warum die Songs überhaupt entstanden, dann stimmt etwas nicht. Wahrscheinlich mit mir und meinem Geschmack.... aber ich höre in 'Ich' fast ausnahmslos Titel, die nicht haften bleiben wollen. Kryptische Texte finden sich dieses mal eher in der Minderheit, Witt bleibt ungewohnt klar und reimt wie nichts Gutes. Zum Teil aber auch gar nichts Gutes. Ich bin mir nicht sicher, ob es an der in den Hintergrund getretenen Musik liegt, aber selten habe ich mich bei einem Album, bei dem die Texte deutlich als wertvoll verkauft werden, so durch die Zeilen gequält. Klar, Hellectro, Black Metal oder das Gesamtoeuvre von Umbra er Imago Mozart - es geht immer schlechter. Und sicherlich finden sich auch für mich z.B. in „Wie weit noch“ und „Alles was ich bin“ schöne Zeilen und mit seiner unnachahmlichen Stimme könnte Witt "Zicke Zacke, Hühnerkacke" singen und es klänge gut. Aber über weite Strecken wäre ich bei 'Ich' froh, wenn er tatsächlich "Zicke...." singen würde. Das Highlight: „Stillgestanden für Braut die dir bald aufs Mauel haut olé olé oléiei oléiei“ Der limitierten Version beigefügt ist noch ein kleiner Vorgeschmack für die kommende LiveDVD 'Wir – Joachim Witt Live 2015': Die immerhin 23 minütige Aufnahme kann in solider Bild- und guter Soundqualität die tolle Stimmung im Publikum einfangen. Die Zuschauer hängen an Witts Lippen und er bietet eine Show, die augenscheinlich gut ankommt. Meins sind die drei Songs in die Länge gezogenen Songs nun deutlich nicht und da Fans die kommende DVD sowieso kaufen werden stellt sich die Frage, ob der Bonus ein wirklich gehaltvoller ist. Ich hoffe, Witt erging es in der letzten Zeit besser, als es beim Lauschen von 'Ich' den Anschein erweckt und ich werde weiterhin (wenn auch vorsichtiger) neues Material anhören. Fans des nunmehr 66jährigen werden die Zeilen verständnislos lesen und das Album dennoch genießen. Ich aber werde 'Ich' vergessen. Schnell, hoffe ich.