Ich kann jetzt nicht wirklich sagen, dass dieses Jahr schnell an mir vorbeizog – die Wochen und Monate zogen sich dahin, fast so, als wäre ich wieder jung. Leider eher Dank kleinerer und größerer Katastrophen oder Umstürze in Politik, Gesellschaft und meinem Umfeld, weswegen ich dem Jahr auf diesen Ebenen nur bedingt eine gute Abschlussnote geben kann und ich erahne, dass es nicht nur mir so geht. Während wir also auf den Impfstoff warten ist meine Medizin die Musik und auch wenn Konzerte und Tanzen gehen nach Februar für mich ausblieben habe ich wohl noch nie so viel Klangkunst konsumiert, wie in diesem Jahr – und das muss wirklich was heißen. Also soll es heute, am 24.12.2020 um Musik gehen. Einfach nur Musik. Und ich muss sagen, dass ich diesem Jahr auch an dieser Stelle nicht unbedingt Bestnoten mitgeben kann, auch wenn verdammt viel veröffentlicht wurde. Für mich wichtige Projekte wie Sopor Aeternus, Myrkur oder Rome zeigten sich in meinen Ohren zwar in guter Form, aber eben nicht in sehr guter – insbesondere bei Rome's 'The lone furrow' sah ich keine wirkliche musikalische Entwicklung, eher sogar Schritte zurück und insgesamt ist die Ausbeute bemerkenswerter Alben für meinen privaten Heimgebrauch überschaubar. Aber nichtsdestotrotz erschienen 2020 Perlen, die ich hier voller Überzeugung nennen kann und ehren möchte. Ich einigte mich erneut im Zwiegespräch mit mir selbst auf fünf Alben, die mir ganz besonders gut gefielen, drei Alben, die sicher nicht zu den Schlechtesten gehören, mich aber persönlich ausgesprochen enttäuschten und einen kleinen Bonus. Und nein, Orplid ist nicht enthalten – die Kritik an ihrer aktuellen Scheibe ist mir zwar die bisher wichtigste in der gesamten Zeit beim Medienkonverter und fand auch in den Kommentaren Resonanz, aber rein musikalisch war das Album in meinen Ohren eine unbedeutende Nullnummer.

 

Erklimmen wir also die Treppen des Podestes:

Platz 5: Björn Peng – Volk off!

Als mir die Promo angeboten wurde, sagte ich tatsächlich nein. Und nun ist 'Volk off!' eines meiner Alben des Jahres – auch ich bin lernfähig. Das Projekt, dass ich am ehesten dem EBM zuordnen würde, ist aber auch ein Knaller. Zynisch, politisch, tanzbar, geil. Der Titeltrack ist dabei die schärfste Nummer, klasse Text, die anspruchsvoll genug sind, um wohlwollend zur Kenntnis genommen zu werden, aber gleichzeitig geradlinig in die Fresse, dröhnende Elektronik und ich höre seitdem regelmäßig eine Stimme "Scheiß auf das Volk" sagen, wenn ich mich vom Wahnsinn der Welt und Nachrichten umringt fühle. Sollte es jemals wieder Tanzveranstaltungen geben, werde ich mir beim DJ Björn Peng wünschen und auf diesem Album finden sich 5 Nummern, zu denen ich garantiert zappeln würde. Mega.

https://bjoernpeng.bandcamp.com/album/volk-off

 

Platz 4: Jonathan Hultén – Chants from another place

Oh ja, dieses Album ist ein kleiner, altmodischer Folk Trip, der aufgrund seiner Qualität leicht vergessen lässt, dass hier nicht mit innovativen Zutaten gearbeitet wurde. Denn seien wir ehrlich: Wirklich unentdecktes, aber musikalisch schmeichelndes Terrain kann nur noch sehl selten erschlossen werden und so ist es die Aufgabe heutiger Musiker, die bekannten Mittel zu etwas Besonderen zusammenzumischen. Hultén gelingt dies auf vorliegendem Werk durchweg, 12 wundervoll sanfte Balladen, 41 Minuten Alltagsflucht – ein musikalischer Safespace.

https://jonathanhulten.com/

 

Platz 3: [Haus Arafna] – Asche

Was bin ich froh um diese 'Asche'. Mr. und Mrs. Arafna haben es endlich wieder so richtig geschafft, ihr eigentliches Hauptprojekt im Sound deutlicher von November Növelet zu trennen und damit 44 min kalte Angst, Verstörung und Entfremdung zu vertonen. Ja, genau so möchte ich es haben. 'Asche' ist kein Brocken, der den Hörer mit wütender Verzerrung erschlägt, sondern kriechendes Unwohlsein, dass erst den Verstand lähmt und dann nach und nach jede Faser des Körpers erfasst. Arafna Cultura Forever.

https://hausarafna.bandcamp.com/releases

 

Platz 2: Emyn Muil - Afar Angathfark

Beim Schwarzmetall, meiner Lieblinsspielwiese, wenn es um die Menge an Alben geht, die ich mir gönne, wird es schwer: Die Dänen Afsky haben mit 'Ofte jeg drømmer mig død' ein wirklich starkes DSBM Album veröffentlich, dass jedem Scharzwurzler dringlichst ans Herz gelegt sei und auch Mörk Gryning kehrten saustark zurück. Und gerade mein Lieblingsterrain, der von Summoning inspirierte epische Black Metal, fand saustarken Zuwachs: Ob es nun die eigenwilligen, aber gekonnten Klänge des Feminazgul Debüts sind oder das quasi-Best-of von Stronghold Guardian – Bockstark! Aber da ich mich auf ein Album mit feisten Fauchen beschränken wollte, kann hier nur Emyn Muil mit ihrem dritten Werk 'Afar Angathfark' auftauchen: Ja, es klingt wie Summoning zur 'Dol Guldur' Zeit, aber es ist so verdammt gut, dass man einen Fehler begehen würde, das Projekt als schnöde Kopie abzutun. Emyn Muil bereichern die Sammlung epischer Soundtracks mit schwarzmetallischen Rudimenten um fast 70 Minuten durchweg hochklassiges Material. Auf nach Mittelerde.

https://emynmuil.bandcamp.com/

 

Platz 1: Choir Boy – Gathering Swans

Es fiel mir nicht schwer, in diesem Jahr meinen Favoriten zu wählen. Choir Boy haben dermaßen viele Runden in meinem Player gedreht, waren an so vielen Orten mit mir unterwegs und verführten mich auch in der Öffentlichkeit, an Bahnhaltestellen und roten Ampeln zum spontanen Tanzen – das Zweitwerk der Herren aus Salt Lake City bietet so unfassbar kitschigen, schwülstigen und perfekt auf den Punkt gebrachten 80er Wave, dass Freunde solcher Sounds sicherlich mitgerissen werden. Sänger Adam Klopp beweist nicht nur, dass er ein Händchen für wirklich beschissene Coverartworks hat, sondern auch für unfassbar schmissige, bewegende Melodien, die trotz aller Eingängigkeit und altbewährter Mittel kreativ und neu wirken. Alles fließt ganz natürlich ineinander und man will in seinem Zimmer hocken und einen Star-Schnitt anhimmeln, sich danach mit Freunden treffen und verträumt auf der Tanzfläche im Synthiereigen dem Morgengrauen entgegentanzen. Wun Der Voll.

https://choirboy.bandcamp.com/album/gathering-swans

 

Auf geht’s n den Keller

Am Pranger 3: Moss Golem – The woods of Galdura

In meinen Jahren beim Medienkonverter wurden Verrisse immer seltener. Das liegt zum einen daran, dass ich mir selbst vorwerfen muss, manches Mal auf Kosten hoffnungsvoller Musiker beleidigenden Humor verwendet zu haben. Es ist aber vor allem auch, dass immer seltener Murks eine offizielle Plattform erreicht, da man inzwischen im Netz alles selbst veröffentlichen kann. Moss Golem haben aber Kassetten produziert und um Review gebeten und die einzige Frage, die ich mir stelle, ist: Warum? 'The woods of Galdura' ist ein Feuerwerk unfreiwilliger Komik, eine unkoordinierte Kakophonie und ein Sinnbild des ambitionierten Scheiterns. Und so hat Moss Golem etwas geschafft, was die meisten soliden Alben nie erreichen werden: Ich erinnere mich an diese Katastrophe und sie bringt mich zum Lachen. Das ist doch schon einmal was.

https://serpentsswordrecords.bandcamp.com/album/the-woods-of-galdura

 

Am Pranger 2: Shirley Collins – Heart's Ease

Okay, Moss Golem war wirklich schlecht. Das aktuelle Album der 85jährigen Engländerin ist hingegen für mich subjektiv eine große Enttäuschung. Mit der Vorabsingle "Wondrous love" warb man für genau das, was ich von der Dame mit der eigenwilligen und inzwischen herzzerreißend schwachen, verlebten und tränentreibend schönen Stimme erwarte: Melancholische Folkweisen voller Verletzlichkeit und Sehnsucht, wie man sie auf dem 2016er 'Loadstar' zuhauf fand. Jedoch entschied sich Shirley, aktuell eher nette, fröhliche Weisen zu spielen und ihrer Stimme viel zu wenig Raum zu bieten für all die Facetten, die eine gealterte Stimme mit sich bringt. Das Album plätschert dahin, die Stimmung ist eher sommerlich frisch, schrecklich harmlos nichtssagend und ich bin mir sicher, viele Fans freuten sich über etwas aufmunternde Klänge – ich sehe aber die Qualitäten dieser Frau, die seit 1959 Musik veröffentlicht, in anderen Bereichen.

https://shirleycollins.bandcamp.com/

 

Am Pranger 1: Austra – HiRUDiN

Ach herrje, was war dieses Album ein Tiefschlag für mich. Die drei Songs, die mir gefallen (mich aber wohlgemerkt auch nicht wirklich flashen) auf den ersten 10 Minuten des Albums gedrängt, das restliche Album 25 Minuten pure Enttäuschung. Und 35 Minuten Spielzeit ist auch so eine Klatsche. Hatte Katie Austra Stelmanis mit 'Future politics' bereits deutlich aber ausgesprochen genial einen Radio-tauglichen Sound eingeführt in den Austra Klangkosmos, so verstehe ich vorliegendes Werk als Selbstaufgabe. Aber wer braucht denn um Gottes Willen eine weitere Stadiumpop Band? Belanglos, uninspiriert und schlicht langweilig. Zum Teil so wuchtig aufgebläht und dabei innerlich leer, dass ich Songs wie "It's amazing" nur schwer ertrage. Nein, dieses Album hat mich schwer getroffen und meine Meinung hat sich über die Monate nicht relativiert, sondern verfestigt: Das ist ein wirklich schwaches Album, das den großartigen Vorgängern künstlerisch Lichtjahre hinterherhängt.

https://austramusic.bandcamp.com/album/hirudin

 

Und nun noch ein kleiner Bonus:

Das Internetz spuckt manches Mal Dinge aus, die nicht nur kurzfristig begeistern oder belustigen, sondern auch etwas Mehrgehalt bieten. Und in diesem Jahr ist es ein Kanal auf Youtube, der ganz wunderbar zwei und mehr Lieder ineinander mischt. Diese Mashups gab es schon öfters, aber bei Bill McClintock klingen die Ergebnisse so gut, dass ich sie mir auch beim regulären Hausgebrauch in die Playlist lade. Und im Sommer kam dann „Donzig – Bad Mother“ heraus. Der Track ist so schmissig, so natürlich, brüllend komisch und trotzdem musikalisch ein Volksfest: Dazu möchte ich furchtbar gerne tanzen… Und den Text kenne ich zufälligerweise schon auswendig. Toll.

https://www.youtube.com/watch?v=H6_jBfoTLFQ&feature=emb_title

 

Und das war es dann wohl mit diesem Jahr – was eine Grütze von einem Jahr und der klare Beweis, dass der Mensch noch lange nicht einer Vernunft nahe ist. Über 70 Millionen wählen Donald erneut, tausende besorgte Bürger können nicht zählen (1,3 Millionen in Berline am Arsch) und vergleichen unsere Freiheiten mit der DDR und dem NS Regime, die Regierung zeigt deutlich, dass ihr die Tourismusbranche wichtiger ist als Pflege, Bildung und Kunst und jede Partei versucht uns zu überzeugen, dass sie eigentlich nicht wählbar ist. Hoffen wir auf 2021.

Ich wünsche allen Lesern (und auch allen anderen) schöne Feiertage, einen guten Rutsch, Gesundheit, ausreichend Toilettenpapier, keine Existenzsorgen und immer genügend Zeit für Musik.