Aufgepasst, Erasure-Fans! Wenn Ihr aus Enttäuschung über das aktuelle Album von Vince Clarke und Andy Bell bereits vorschnell den Glauben an wunderbar leichtfüßige Kompositionen, emotional vorgetragene Lyrics und zuckersüße Synthies verloren habt, kann Euch mit einer noch relativ unbekannten Band aus Chicago geholfen werden – dem Ein-Mann Projekt „Haberdashery“ alias Stephen Pearlman. Vor einigen Monaten flatterte mir die limitierte Remix-CD „Remixes 2010“ ins Haus, auf der das mir bis dato nicht geläufige Projekt einige seiner größten Hits in neuen Soundgewändern präsentierte. Da dieses wüste Sammelsurium aus technoiden Dancestampfern und unstrukturierten Songfetzen nicht wirklich zu gefallen vermochte, hakte ich das Kapitel „Haberdashery“ innerlich ab und beschäftigte mich nicht weiter mit dem angeblich extrem talentierten Solokünstler. Der Zufall wollte es, dass ich jüngst beim Stöbern im Internet – ja, man sollte sich die Worte Bärbel Höhns zu Herzen nehmen und mal regelmäßiger „Internet gucken“ – auf Lieder des aktuellen Albums „Tonight the angels“ stieß, die sogleich Assoziationen mit den mittelälteren Werken von Erasure weckten. Der Gesang konnte es dabei nicht ganz mit dem eigenwilligen Charakter eines Andy Bells aufnehmen, kam dafür aber erdiger und auf gewisse Weise sympathischer aus den Boxen gequirlt. Die Neugierde war fortan geweckt und der Gesamteindruck des Albums bewies die Berechtigung der einsetzenden Euphorie angesichts einer potentiell vielversprechenden Neuentdeckung. Wie kann ich dem interessierten Leser nun den Erwerb des zehn Songs umfassenden Hammeralbums nahelegen? Zum Einen sind es die enorm starken Melodien und Spannungen, die sich im Laufe eines jeden Liedes aufbauen, welche nachhaltig im Ohr hängenbleiben. Bisweilen schrammt der produktive US-Liedermacher zwar haarscharf an der Grenze zum Kitsch vorbei, aber die teils süßlichen Sounds täuschen über eine immense inhaltliche Tiefe hinweg. Überhaupt spürt man in jeder Sekunde, wie intensiv Stephen seine Kompositionen mit Herz und Seele fühlt und möchte, dass der Hörer eben jene Gefühle, die ins Songwriting einflossen, spürt und nachvollziehen kann. Wem die dazu nötige Fantasie fehlt, kann auf den 45-minütigen Audiokommentar zurückgreifen, der als optimale Ergänzung zum Gesamtpaket kostenlos downloadbar ist. Es ist schwer, zwei oder drei Anspieltipps herauszugreifen, da „Tonight the angels“ vor allem als Gesamtpaket funktioniert. „Don’t break my heart“ oder „You save my life“ sind schnellere Popsongs, während „Tonight is forever“ oder „The answer“ nahezu perfekte Balladen mit wahnsinnigen Harmonien sind. Abgerundet wird das liebevoll produzierte Kleinod durch ein 40-seitiges Booklet und die begleitenden Singleauskopplungen. Sämtliche zehn (!!!) Songs des Albums wurden nachträglich einzeln und mit Bonustracks veröffentlicht – auch dies ein Indiz für die Freude, mit der Haberdashery seine Musik vertreibt. Auf der Bandcamp-Seite können alle Songs in voller Länge gehört werden, aber zumindest Erasure-Fans können auch „blind“ kaufen. Trust me!