Wir schreiben das Jahr 1981. Es dauert nur noch ein Jahr, bis der Verfasser dieser Zeilen auf der sozialistischen Seite des Lebens seinen ersten Haufen in eine Stoffwindel haut, MTV geht auf Sendung, der Punk, Post-Punk und Wave bringen zahllose Klassiker hervor und im schweizerischen Bern leuchtet kurz, aber hell das Licht von Grauzone. Ein Album, vier Singles und zehn Live-Auftritte übersteht die Band zwischen 1980 und 1982, dann ist schon wieder unter dem Druck von außen, den allein „Eisbär“ mit sich brachte, Schluss. Dieser Titel wird aber auch auf ewig mit dem Namen Grauzone verbunden sein. War da noch mehr? Aber hallo!

Die folgenden Zeilen braucht niemand lesen, der das Album und die Singles kennt. Was soll ich diesen Personen sagen über ein Album, dass vier Jahrzehnte auf dem Buckel hat und älter ist als ich? Ich werde nichts zur Geschichte der Band schreiben, ihrer Entstehung, Auflösung und dem Treiben der beteiligten Herren in den nachfolgenden Jahren - das findet man mit zwei Klicks gut zusammengefasst im Netz und gehört meines Erachtens nicht in diese Kritik. Diejenigen, denen Grauzone mehr sagt als der weiße Pelzträger, sollten nur überlegen, ob sie die in meinen Augen beste Zusammenfassung des Treibens der Schweizer im Schrank brauchen und wenn ja, in welcher Form. Hier wäre auch genau der Ansatz, der eigentlich viel interessanter für die Kritik einer solchen Veröffentlichung wäre – jedoch über die Qualität der Editionen, der Liner-Notes und der zusätzlichen Inhalte auf den LPs der Box kann ich nur mutmaßen. Mir standen die Dateien der reinen ‚Grauzone (40 Years Anniversary Edition)‘ zur Verfügung und ich kann mir genau wie der Leser Bilder der Box im Netz ansehen. Ich lese aber durchweg Positives.

Nun aber für alle, denen Grauzone bisher nichts oder eben nur im Zusammenhang mit dem einen Hit etwas sagt: Ähnlich wie bei No More und ihrem Hit „Suicide commando“ ist auch „Eisbär“ eigentlich ein Sonderling im Oeuvre der vier jungen Musiker: Der sehr tanzbare Rhythmus und die post-punkige Stimmung, die durch monotones Drumming und ein treibendes Bass-Gitarrenspiel entsteht – das klingt alles sehr harmonisch und gut konsumierbar. Zusammen mit dem etwas dadaesken Text deuteten Grauzone einen Trend an, der im weiteren Jahrzehnt durch andere in der Neuen Deutschen Welle aufgehen sollte. Gegen Ende des Titels übernehmen schräge Saxophonparts und eine enthemmte und schräg gestimmte E-Gitarre zwar immer mehr die Oberhand, jedoch blieb den meisten der eher „normal“ klingende, melancholische Pop Song im Ohr. Grauzone aber waren wesentlich experimentierfreudiger als weite Teile der musikalischen Kollegen und das vorliegende Album, auf dem zusätzlich zu den 10 Originaltiteln die Lieder der Singles sowie „Ich und du“ und „Film 1“ enthalten sind, zeigt dies auch. Unbequem, sehr avantgardistisch und niemals leichte Kost – der Sound von Grauzone ist ganz wundervoll und ich liebe mehr als nur den „Eisbär“en: „Film 2“ mit seinen ungemein treibenden Beats, die quasi alles sind, was da passiert, die wütende Postpunknummer „Schlachtet!“, die irgendwie Joy Division in Erinnerung ruft und „Hinter den Bergen“ oder „Marmelade und Himbeereis“, bei dem ich an DAF denken muss. „Wütendes Glas“ ist in beiden Versionen großartig, die Maxi Version bis heute ein zeitloser Spaß auf der Tanzfläche. „Kälte kriecht“ ist eine wabernde Synthnummer, die genau dieses Gefühl kriechender Kälte im Hörer hervorruft und „Moskau“ ist eine fürchterlich schräge NDW Nummer, mit der Grauzone keinerlei Anbiederung an radiotrainierte Hörgewohnheiten unternahmen. „Ein Tanz mit dem Tod“ ist eine fiese Punk-Nummer mit schmerzerfülltem Schreigesang, bei dem sich bei mir die Haare von allein hochtoupieren wollen, damit ich am Rande der Tanzfläche wie unbeteiligt dastehend, aber innerlich mitfiebern kann und „Träume mit mir“ ist in meinen Ohren das schönste Geschenk, das uns Grauzone machten. Eine Blaupause düster-melancholischer Tanzbarkeit, ein sehnsüchtiger Text, den ich als Heranwachsender inbrünstig mitsingen und heute, mehr als 20 Jahre später mit einem Seufzen Wort für Wort wiedergeben kann.

‚Grauzone‘ ist ein Zeugnis seiner Zeit, ein Klassiker, der nie so richtig die Welt eroberte, aber dessen Fans verträumt von Unsterblichkeit sprechen. Die deutschen Texte, die vielen unterschiedlichen Genres, die hier Raum finden und mannigfaltige Gefühle erzeugen und all die kreativen Soundeskapaden, die sich in nahezu jedem Song finden. Eine Produktion, die wie die Kompositionen Ungewöhnliches zum Teil stark betont und Ohrenschmeichelei immer wieder jäh unterbricht. Nein, ‚Grauzone‘ ist deutlich nicht radiotauglicher Pop/Wave der 80er, sondern das Zeugnis einer Band, die neue Klangkosmen suchen wollten und im Kleinen auch fanden. Und man sollte ‚Grauzone‘ im Schrank stehen haben. Und wenn dies bisher nicht der Fall ist, so ist vorliegende Version sicherlich die aktuell beste und umfangreichste. Daumen hoch

 

Grauzone

Grauzone (40 Years Anniversary Edition)

 

26.03.2021

We release whatever the fuck we want records / Wordandsound / Electric Unicorn Music

 

https://wrwtfww.com/album/limited-edition-40-years-anniversary-box-set

 

01. Film 2
02. Schlachtet!
03. Hinter den Bergen
04. Maikäfer flieg
05. Marmelade und Himbeereis
06. Wütendes Glas
07. Kälte kriecht
08. Kunstgewerbe
09. Der Weg zu zweit
10. In der Nacht

Bonus
11. Eisbär
12. Ich lieb sie
13. Moskau
14. Ein Tanz mit dem Tod
15. Träume mit mir
16. Ich und du
17.Wütendes Glas (Maxi Version)
18. Raum
19. Film 1