Es kann nicht Sinn und Zweck von Kunst zu sein, "nur" zu unterhalten - im Gegenteil: Nur allzu viele Vertreter der schreibenden, bildenden und tonerzeugenden Ausdrucksformen nutzen ihre Medien seit jeher, um ein Bild der sie umgebenden Gesellschaft zu reflektieren, um den Betrachter respektive Zuhörer zu Engagement, zu Kritik oder zumindest zum Nachdenken zu bewegen über Zustände, Situationen, Ereignisse, die uns umgeben und die wir wahlweise mit unterdrücktem Grummeln oder aber mit offener Resignation hinnehmen. Es ist fraglich, ob Kunst in der Lage ist, Antworten zu bieten in Zeiten, in denen der Wahnsinn längst Normalität geworden zu sein scheint und auch die Normalität längst wahnsinnig machen kann. Auf jeden Fall aber ist Kunst in der Lage, Fragen zu stellen; Fragen, über die man sinnieren, philosophieren und auf die man vielleicht sogar Antworten finden kann... An Fragen mangelt es nicht auf "if i should die tomorrow", dem aktuellen Album von Ginger Leigh; dabei ist die erste ("Wo ist denn bei der verd*&!/en, beidseitig schwarz schimmernden CD oben und unten?!") trivial und insofern schnell beantwortet. Danach wird es sperriger, unscharf, kaum beschreiblich. 18 Tracks, insgesamt 53 Minuten Tonkunst, die sich allenfalls mit dem Begriff "originell" erschlagen lassen. Die ersten Assoziationen, die dieses Werk erzeugt, lassen einen entfernt an einen Soundtrack für einen düsteren, sperrigen Science-Fiction - Streifen denken, an das Leben in einer beängstigenden, bizarren, konfusen Realität aus der Gedankenwelt eines William Gibson oder Jeff Noon, in einer Welt, in der gesellschaftliche Strukturen und Werte ebenso verblassen, in einer Zeit, die ziel- und orientierungslos geradewegs auf den großen Knall zuzutreiben scheint, wie "waiting for the apocalypse" (Track 15): Alarmsirenen, unterbewußt-bedrohliche Elektronik-Klangkonstrukte und ein hypnotischer Percussion - Rhythmus, dem kaum zu entrinnen ist - der Weg ist bekannt und vorbestimmt; entkommen wird man nicht. "if i should die tomorrow" steht für Industrial, für Noise und Ambient, wobei sich der oder die Musiker hinter diesem Projekt auf Pfade weitab der mit diesen Begriffen verbundenen Erwartungen bewegen. Teilweise bestehen die "Songs" lediglich aus Lärmcollagen. Unter Sirenen, schreiende Stimmen, schlagende Hämmern, kreischende Elektronik-Passagen und startende Motoren mischen sich dabei auch schonmal asiatisch anmutende Flötenklänge ("i dreamt a dream"), orientalische Musik mit dem Charme eines überlaufenen Basars ("love letters"), Samples melancholisch-verträumter Jukebox-Klänge ("artificial limbs"), Bass- und Sitar-Passagen ("walk tall") oder Gitarren-Parts ("red baloon"). Diese eigenwillige Zusammenstellung von Klängen, kurzen Melodielinien und Geräuschen in Verbindung mit dem Sound der CD, dem der Charme einer Radio-Übertragung auf Mittel- oder Kurzwelle anhaftet, erzeugt, wie schon angedeutet, die Wirkung eines Soundtracks, der den Hörer nach den letzten Klängen von Track 18 (" the end" ...) verstört und mit Fragen im Kopf zurückläßt. Ist dies eine dunkle, bedrohliche, unfaßbare Vision oder, im Zeitalter von Terrorismus-Angst und Präventionskriegen, von Totalüberwachung und Konsumgesellschaft, von Biotechnologie und chemischen Kampfstoffen nurmehr der Soundtrack zu der Realität, die um uns herum schwelt, während wir uns, paralysiert, wehr- und willenlos, längst darauf beschränkt haben, stumme Beobachter zu sein, Statisten am Rand eines Weges, der für diese Welt vorgesehen ist? Fragen, Fragen, Fragen... Es ist kaum möglich, "if i should die tomorrow" nach herkömmlichen Maßstäben zu bewerten: Von der technischen Seite her wirkt die Platte (sowohl was den Sound und die Produktion als auch Covergestaltung und -umsetzung betrifft) im Vergleich zu dem, was in der gegenwärtigen Industrial - Welt üblich ist, nahezu dilettantisch; andererseits kann man sich der Erkenntnis nicht entziehen, daß genau diese Wirkung gewollt und beabsichtigt sein könnte. Von der konzeptuellen Seite betrachtet ist die Platte um Dimensionen experimenteller, ausgefallener, gewagter, sperriger als alles, was ich in den letzten Monaten zu Ohren bekommen habe; hier entzieht sich das Album konsequent dem Vergleich mit irgendwelchen anderen derzeit aktiven Bands und Musikern, und selbst die Schublade "Industrial" ist eigentlich für Ginger Leigh viel zu klein. Fünf von sechs für ein schwerverdauliches, schwer beschreibbares Album, welches trotzdem irgendwie zu faszinieren vermag.