Zur gleichen Zeit wie D’espairsRay haben auch Dir En Grey, die wohl derzeit größte J-Rock-Band überhaupt, neues Material veröffentlicht. „UROBOROS – with the proof in the name of living … – AT NIPPON BUDOKAN“ erscheint als Digipack mit CD und DVD und dokumentiert in aufwändiger Umsetzung akustisch wie visuell zwei im Januar diesen Jahres mitgeschnittene Live-Shows in Tokio während der Welttournee “TOUR09 FEAST OF V SENSES“, basierend auf dem 2008 erschienenen siebten Album der Band „Uroboros“. Wer aber sind überhaupt Dir En Grey und wer oder was ist „Uroboros“? Dir en Grey sind ein Phänomen, nicht nur in ihrer Heimat Japan, sondern weltweit. In den USA, in Europa, in Asien – seit der Bandgründung vor rund 10 Jahren sorgt das Quintett regelmäßig für Top-Platzierungen ihrer Veröffentlichungen, ausverkaufte Konzerte und einen gigantischen Fan-Ansturm. In ihrem Heimatland stehen Dir En Grey für eine schier unglaubliche Erfolgsstory und haben bereits Kultstatus erreicht. Selbst in Deutschland rollt der Band immer wieder eine riesige Welle an Sympathie entgegen, z.B. bei ihren Auftritten bei Riesenfestivals wie Rock am Ring, Rock im Park oder dem M’era Luna vor einigen Jahren. Sogar den MTV Headbangers Ball Award in der Kategorie “Bestes Metal Video haben sie bereits gewonnen. Wer die Musik von Dir En Grey kennt, weiß warum. Noch weniger als bei D’espairsRay ist deren Sound auf Anhieb mit keiner anderen Band zu vergleichen. Das Genre Metal trifft es schon mal ganz gut. Death Metal meets Power Metal meets Hard Rock, könnte man präzisieren. Harte E-Gitarren, ein prügelndes, schnelles Drumming, hier und da ein paar Synthie-Elemente, ein klein wenig romantischer Pop – Dir En Grey kredenzen ein musikalisches Opus, das sich im Grunde konkreter Beschreibungsversuche entzieht. Das Bemerkenswerteste ist ohnehin Sänger Kyo, dessen stimmliche Bandbreite schier unfassbar ist. Mühelos schwingt er sich durch alle vorstellbaren Extrem-Höhen und Tiefen. Bei den Growls müsste sich streng genommen sogar Chris Barnes (ex Cannibal Corpse) ehrfurchtsvoll verneigen und bei den wilden Screams allen Power Metallern die langen Haare zu Berge stehen. Dir En Grey wüten musikalisch wild, exzessiv und ultra-emotional und lassen ihren Gefühlen, Träumen, Ängsten und Hoffnungen freien Lauf. Sie verstören und verzaubern gleichzeitig mit ihrer offensichtlichen Aufrichtigkeit, mal bedrohlich wie ein wildes Tier, das lauernd um seine Beute kreist, mal melancholisch-heroisch-theatralisch. Klingt unglaublich, ist aber so. Der hervorragende gefilmte Konzert-Mitschnitt auf DVD beweist dies eindrucksvoll. Von den beiden Konzerten Anfang Januar 2010 in der – wie es scheint restlos ausverkauften – riesigen Nippon Budokan-Halle in Tokio wurden 26 Songs mitgeschnitten und zu einem fast zweistündigen Live-Erlebnis zusammengestellt. Die Auftritte der Tour, welche insgesamt 99 (!) Konzerte umfasste, gleichen einem einzigen Riesen-Spektakel. Zentrales Thema: der Uroboros, ein im Alten Ägypten existierendes Bildsymbol, das eine Schlange zeigt, oft auch dargestellt als Drache, die sich in den eigenen Schwanz beißt und so mit ihrem Körper einen geschlossenen Kreis bildet. Die Darstellung symbolisiert ein vollkommenes Wesen ohne Bezug nach Außen, Unendlichkeit ohne Anfang und Ende. Dir En Grey haben dieses Symbol für sich interpretiert als „Vereinigung von Gegensätzen und der Wiederkehr des ewig Gleichen in der Neugeburt nach dem Tod“. Die Welt gleicht für sie „einer Existenz in einem immer wiederkehrenden Zyklus“. Textlich-konzeptuell ist das Ganze schwer nachvollziehbar, da – zumindest kommt es einem so vor – durchweg auf Japanisch gesungen wird (oder es ist z.T. doch Englisch und man versteht es einfach nicht, könnte sein ...). Doch die Show lenkt den Fokus sowieso in andere Bahnen. Sie gleicht einem Mega-Event auf einer riesigen Bühne mit aufwendiger, mystischer Kulisse und einer gigantischen Licht- und Videoshow – und mittendrin die fast unspektakulär zivil wirkenden Bandmitglieder um den blondierten, Ziegenbärtchen tragenden Kyo (in Military-Pants und derben Stiefeln), der nach dem Ablegen des Jackets seinen Körper als tätowiertes, perfekt durchtrainiertes Gesamtkunstwerk präsentiert. Langhaarige Metal-Berserker, die im Laufe des Konzerts neben ihren Instrumenten auch die Bühne zerlegen sucht man in der Band vergeblich. Hin und wieder lächelt sogar der ein oder andere Musiker – das ist eben Japan und nicht Deutschland. Echter Aktionsmittelpunkt bleibt fast ausschließlich Kyo, der nicht zu bremsen und selten wirklich außer Atem zu sein scheint. Nur in den ruhigen mystisch-dunklen „Interludien“ gönnt er sich eine kleine Pause. Dem Publikum gegenüber gibt er sich wortkarg, lässt sich jedoch feiern wie ein Fleisch gewordener Gott – der Anblick von weit über 10.000 akkurat in die Luft gestreckten Armen der Fans wirkt fast schon grotesk. Und die sind auch keine wilden, unzivilisierten Metal-Heads, sondern neben den kostümierten Visual-Kei-Fans hauptsächlich „Durchschnitts-Jugendliche“, wie wir sie uns in Deutschland niemals auf einem solchen Konzert vorstellen könnten. Selbst als nach der Show, die Band hat bereits die Bühne verlassen (auch das schnell und ohne große Worte), noch ein Video von Dir En Grey auf der Leinwand abgespielt wird, feiern die Leute ausgelassen weiter und singen mit. So etwas nennt man Stimmung! „UROBOROS – with the proof in the name of living… – AT NIPPON BUDOKAN“ zeigt eindrucksvoll, wie speziell, wie außergewöhnlich, fast fremdartig, die J-Rock-Szene (immer noch) ist. Das besonders Faszinierende daran ist, dass, egal wie hart und krass der Sound auch sein mag, dem Ganzen immer noch etwas Friedliches anhaftet. Irgendwie scheint es, als könnten die Japaner, so sehr sie auch wollen, niemals ganz aus ihrer Haut. Und das macht es gerade so besonders. Ein hörens- und sehenswertes Erlebnis von begeisternder optischer und akustischer Qualität!