Fans der Band „Die Kammer“ werden nun zunächst mit einer schockierenden Information konfrontiert, die möglicherweise umgehend zum empörten Verlassen dieser Seite und einer eilig aufgesetzten Email an deren Verantwortliche führen könnte: Der Rezensent nachfolgender CD ist eingefleischter Fan synthetischer Popmusik und hat für Gittarengeklampfe so wenig übrig wie für eine kalte Dusche am Morgen oder mit Chilipulver versetzte Schokolade. Doch ohne es wenigstens einmal probiert zu haben, ist man nicht legitimiert, das Verzehren eines Stückes scharfer Schokolade unter kalter Brause fachkundig zu kritisieren.

„Augen zu - Ohren auf - und durch“, lautet daher das Motto, welches mir beim Hören des 60-minütigen Albums „Season III - Solace in Insanity“ treue Dienste leisten wird. Der Titeltrack ist zunächst einmal ein echtes Opus, das mit einem fesselnden Spannungsbogen aufwartet. Die von Sabine Bohlmann eingesprochenen Texte kontrastieren schön mit der charismatischen Stimme des Sängers Marcus Testory und die Instrumentierung wandelt sich im Laufe der 421 Sekunden von schüchterner Untermalung zum imposanten orchestralen Brett. Das Hörvergnügen erfährt mit Song Nr. 4 „Gingerbread Heart“ weiteren Auftrieb, die Symbiose aus Spielmannsmusik, osteuropäischem Folk und narrativer Lyrik bleibt nicht nur nachhaltig im Ohr hängen, sondern steht auch stellvertretend für die den meisten Liedern innewohnende Dramatik, die stets gekonnt die Klippe des Kitsches umschifft. Die dank des jährlichen Kirmesterrors mittlerweile verhasste Drehorgel klingt im musikalischen „Kammer“-Kontext plötzlich ungewohnt sympathisch.

Überhaupt scheint dies ein Qualitätsmerkmal der Band zu sein: Instrumente, die dem Normalbürger im Alltag nur selten bzw. in klar abgesteckten sozialen Umfeldern begegnen, stimmig in einen sehr speziellen und damit unverwechselbaren Klangkosmos zu integrieren. Bei „The Galant Enticer’s Tango“ sind die Sounds derart vielschichtig arrangiert, dass die Anzahl der eingesetzten Instrumente ähnlich hoch sein dürfte wie die blind geleisteten Unterschriften von „Kaiser“ Beckenbauer anlässlich der WM-Vergabe 2006 - in beiden Fällen nur schwer quantifizierbar. Die Abwesenheit meiner geliebten Synthesizer schlägt auch in der zweiten Albumhälfte nicht negativ aufs Gemüt - im Gegenteil: je genauer man hinhört, desto mehr Facetten offenbaren sich den anspruchsvoll beschallten Lauschern. Die wandlungsfähigen Vocals verdienen eine gesonderte Erwähnung, wo sonst gibt es Nick Cave, Alexander Veljanov und Leonard Cohen zum Preis von Einem? „Fairy on the Wire“ bietet einen dreisprachig vorgetragenen Refrain sowie ein etwas „geklaut“ klingendes Intro (wer weiß, welcher Song hier gewürdigt wird?) und wer eher auf klassischen Singer-Songwriter-Stoff steht, dürfte mit „Will You Close My Eyes?“ glücklich werden.

Für den perfekten Hörgenuss sollte ein qualitativ gehobenes Stereo-Equipment oder zumindest ein guter Kopfhörer vorhanden sein. Wer Musik ausschließlich nebenbei beim Kochen konsumiert oder sie im Auto zum Übertönen des getunten Motors benötigt, dürfte mit der CD in seinem „Insanity“ keinen „Solace“ finden. Aber im stillen „Kämmerlein“ (*Brüller) darf die erste rein akustische CD meines Lebens gerne noch die eine oder andere Runde drehen. Nicht nur für Fans eine Hörempfehlung! Darauf eine Chili-Schokolade!