Vor einiger Zeit sah ich im Netz einen Bericht von David Tibet, den Maler, und einige Interviews mit Begleitern und Verehrern. Das Spannende für mich war dabei, dass sie begeistert sprachen von diesen Maler, der so wenig greifbar schien und von dessen musikalischer Karriere sie erst später erfahren haben. Tibet selbst war ganz bei sich und bei dieser einen Ausdrucksform und man lernte so auch eine weitere Facette kennen. Und mag seine optische Kunst nicht gerade Feelgood sein, so ist sie sicherlich durch das Ausbleiben einer Dauer-Predigt in schiefen Tönen etwas leichter konsumierbar. Und nun zu etwas vollkommen anderem: Das neue Current 93 Album ist draußen. Und es ist [hier kann die Wertung eingesetzt werden, man bisherigen Alben von Current 93 so im Schnitt geben würde].

Wer sich dann und wann auf diesen Seiten verirrt, der kann erahnen, dass ich mich gut anfreunden kann mit David Tibets musikalischem Werk – unglaubliche 40 Jahre Musik, viele Experimente, unbequeme, anstrengende und meist eher pessimistisch-melancholische Phasen: Current 93 sind genial. Und man darf das Projekt trotzdem ganz schrecklich finden. Denn die eher minimalen Arrangements unterschiedlichster Instrumentierungen, die liebliche Melodien endlos wiederholen, waren und sind Fundament für Tibets Botschaften, die so kryptisch sind, wie eh und je. ‚If a city is set upon a hill‘ macht da keine Ausnahme, auch wenn selbst die größten Kritiker zugeben müssen, dass die Tibet-Show aktuell gesanglich weitaus weniger schräg und schief erklingt wie in manch anderer Phase des Projektes. Wundervoll ist aber, dass dieses Album nach dem fantastischen 2018er Werk ‚The light is leaving us all‘ weiterhin ungemein mitreißende Musik mit sich bringt, die mich zu Tränen rühren vermag. In dem Moment, in dem ich „There is no Zodiac“ das erste Mal hörte, kann ich beim Einsatz der Violine nicht anders, als zu schlucken, so berührt war ich. Ja, dieses Mal ist es insbesondere die Leistung von Aloma Ruiz Boada an der Violine im Zusammenspiel mit der Pianoarbeit, die die Musik noch einmal mehr aufwertet. Erneut schafft es Tibet, mit tollen Musikern sein bewährtes Schema mit Leben zu füllen – eine unglaubliche Leistung, müsste ich doch beim Blick in meinen Plattenschrank genervt feststellen, dass ich derlei nun wirklich schon oft genug gehört habe. Und auch wenn ich zugeben muss, dass mich ‚The light is leaving us all‘ mit mehr Gänsehaut erfüllte ob des stoisch wiederholten Albumtitels in jedem Track (ein bewährtes Mittel Tibets, genau wie die Verknüpfung der Inhalte mit Themen und Bildern aus den letzten 40 Jahren Musik), so finden sich hier mehr liebliche Titel, die bei weitem nicht leicht wirken. „Clouds at teatime“ ist noch ein Lied, das alle Barrieren bei mir überwindet und hinreißend melancholisch ist. Insgesamt ist die Stimmung gleich einem hypnotischen Reigen in der Frühlingssonne, jedoch im Bewusstsein aller zerfahrener Gedanken, die Tibet umtreiben.

Tja, für mich hat es sich ein weiteres Mal gelohnt. Current 93 werden nie ein Projekt sein, das man einfach so empfehlen kann. Und auch mir selbst fällt es oft schwer, mich auf die musikalischen Visionen einzulassen und mich insbesondere dem Gesang hinzugeben. Wenn ich aber in genau dieser Stimmung bin, dann lebt die Liebe zum Projekt neu auf – und es liegt nicht an Nostalgie, die meinen Geldbeutel wieder und wieder öffnet. Tibet weiß, sein Projekt lebendig zu halten. Nach 40 Jahren eine unfassbare Leistung, die Hochachtung verdient.

 

Current 93

If a city is set upon a hill


House of Mythology

11.03.2022

 

https://www.davidtibet.com/

 

01. If a city…
02. There is no Zodiac
03. Joke moon
04. Clouds at teatime
05. A column of dust
06. The child, and fire
07. …is set upon a hill
08. If You Want Her To Be Taken
09. Leffotrak
10. Serving Him