Der Name Castus Rabensang entlockt sicherlich den meisten Fans mittelalterlicher Musik ein wissendes Nicken, schließlich ist Castus als Gründungsmitglied von Corvus Corax seit vielen Jahren in diesem Genre aktiv und erspielte sich mit ebenjener Formation bereits einige beachtliche Erfolge. Doch während Corvus Corax vorwiegend für instrumentale Interpretationen mittelalterlicher Weisen stehen, geht Karsten Liehm, so Herrn Rabensangs bürgerlicher Name, mit seiner ersten Solo-Veröffentlichung genau den entgegengesetzten Weg. „Rabengesänge“ ist nämlich, wie der Titel schon andeutet, ein reines A-Capella-Album, wobei, lt. Infoblatt, sämtliche Stimmen von Castus selbst eingesungen und im sog. Overdub-Verfahren bis zu 200 Mal übereinander gelegt wurden. Herausgekommen ist ein Album, das zunächst einige Durchläufe benötigt, bis man sich an den Bombast des vielstimmig scheinenden Chors, der die „Hauptstimmen“ begleitet, gewöhnt hat. Erst nach und nach erschließen sich dann die Stärken aber auch die Schwächen dieses einzigartigen Projekts, denn nicht alle Stücke sind meines Erachtens nach für diese Art der Darbietung passend gewählt. So beginnt die Scheibe zwar stimmungsvoll mit dem altenglischen „Sommerkanon“, doch bereits der zweite Track „Die Jungfrau“, nach Heinrich Heine's „Die Jungfrau schläft in der Kammer“, greift sowohl durch den Falsettgesang, welcher die genannte Jungfrau darstellen soll, als auch durch den brummenden Bass des Knochengerippes ein ganzes Stück zu tief in die Klischeekiste. In die gleiche Kategorie könnte man das „Rotwelsche Schlaflied“ einordnen, welches mir unter dem Titel „Schlafe mein Prinzchen, schlaf ein“ bekannt ist und das hier im Berliner Gaunerlatein des 19. Jahrhunderts betextet wurde. Da versteigen sich die Stophen ebenfalls in ein wenig zu tiefe Gefilde, während im Intro die pfeifenähnliche Obertonstimme eher für Verwirrung als für wohlige Entspannung sorgt. Doch die „Rabengesänge“ halten für den Hörer auch ein paar Höhepunkte bereit. „Modo niger“ ist so einer. Man möchte an dieser Stelle beinahe glauben, daß für das aus den Carmina Burana stammende Stück niemals eine andere Intonation als gregorianisch anmutende Choräle vorgesehen war. Desgleichen das Shanty „Fifteen men“, wo man die Mannschaft der „Black Pearl“ oder der „Hispaniola“ vor seinem inneren Auge auferstehen sieht, die lautstark nach einer „bottle of rum“ verlangt. Und über Heinrich von Mühler's „Grad aus dem Wirtshaus“ werden sich sicherlich diejenigen freuen, welche selbst schon einmal „wackelnden Laternen“ auf dem Heimweg ausweichen mußten. In diesem Zustand könnte man sich dann gleich in Karaoke versuchen, denn drei Titel werden am Ende der Scheibe ohne Melodiestimme wiederholt. Da der Abschluß einer Rezension üblicherweise die Beurteilung der vorliegenden CD beinhaltet, stehe ich nun vor einem ernsthaften Problem. Wie bewertet man das musikalische Werk eines Mannes mit nicht weniger als 4 ½ Oktaven Stimmumfang (lt. Infoblatt), dessen künstlerische Ambitionen zweifellos eine entsprechende Würdigung verdienen, dessen Output sich jedoch streckenweise als zäh und wenig eingängig erweist? Sicherlich ist Unterhaltung nicht das Ziel dieses Albums, doch werde ich dennoch das Gefühl nicht los, daß die gesanglichen Fertigkeiten des Castus Rabensang nicht adäquat umgesetzt wurden. Gerade bei der „Begleitung“ hätte ich mir mehr Abwechslung gewünscht und hier und da wäre weniger mehr gewesen. Deshalb gibt’s von mir lediglich 3 ½ Punkte, gleichzeitig aber eine Aufforderung an alle Freunde mittelalterlicher und/oder klassischer Musik, sich selbst ein Urteil zu bilden, denn außergewöhnlich sind die „Rabengesänge“ allemal.