Es ist ihr sechstes Album, das ich da in meinen Händen halte – 'Spiritual instinct' haben Neige und Winterhalter es getauft und die größte Neuerung ist wohl, dass da Nuclear Blast auf dem Pappschuber prangt. Denn nach 12 Jahren sagten Alcest ihrem bisherigen Label Prophecy Lebewohl. Da es sicherlich ausreichend viele Undergroundfetischisten gibt, die bei beiden Label die Krätze kriegen und zudem auch Alcest als weichgespühlte Zeitverschwendung sehen, gehe ich nicht darauf ein was ein Labelwechsel zu bedeuten haben könnte, denn auch wenn man 2019 nicht wirklich neue Elemente auf das Album packt, so gelingt es dem Duo erneut, wunderbare musikalische Glücksmomente zu schaffen.

Alcest sind in meinen Ohren eine der Bands, die irgendwie ihren eigenen Klangkosmos geschaffen haben, weswegen Fans auch gut damit leben können, wenn Kurskorrekturen homöopathisch umgesetzt werden. Man denke doch nur an das sanfte 'Shelter', das mit seiner extremen Abschaffung der letzten extremen Elemente in der Musik der Franzosen 2014 nicht gerade auf viel Wohlwollen stieß. Das war wohl zu viel Progress. Vielleicht klang deswegen auch der Nachfolger 'Kodama' vertrauter, ließ die ersten drei Alben wieder neu aufleben und wagte eher wenig Neues. Und auch 'Spiritual instinct' ist deutlich Alcest wie die Fans Alcest wollen. Es wurde an der Härteschraube gedreht, denn Winterhalter trommelt zum Teil recht flink und Neige keift häufiger. Harte Schwarzmetaller werden es dennoch nicht mit der Kneifzange anfassen, außer, wenn man jemanden zum kuscheln eingeladen hat, denn Alcest schweben weiterhin auf der Wolke 7 traumgleicher Post (Black) Metal Vibes dahin, nicht Wut, Hass oder Verzweiflung treibt sie in ihren Stücken an, sie vermitteln vielmehr ein Gefühl das zufriedenen Dahintreibens. Und Neige darf selbstbewusst mit weißem Shirt, einer Glitzerjacke aus dem Esotherikbedarf und einem Traumfänger um den Hals lächelnd ins Mikrofon säuseln und kreischen, denn Alcest haben mit Erfolg die Härte aus dem Black Metal exorziert ohne die Musikessenz zu zerstören. Ein Phänomen.

Ach ja, das Album – wenig Neues zugegeben, wenn es um Stilmittel geht, aber verdammt schöne Songs sind es dennoch geworden. „Les jardins de minuit“ mit treibenden Gitarrenläufen und überraschend wuchtigem Drumming sowie häufig zweistimmigem Gesang (bei dem ich mich auf die Liveumsetzung freue, wenn Neige keift und Live-Gitarrist Pierre Zero Corson wunderbar sanft singt) bringt einen sofort ins Alcestwunderland im Herbst. Kopfhörer aufgesetzt, vielleicht durch den Wald spazierend oder das Sofa nicht verlassend kann man sich den 41 Minuten nun voll und ganz hingeben. Und „Protection“, das genauso wie das nachfolgende „Sapphire“ bereits über Wochen mit eigenem Video die Vorfreude auf das Album schürte, ist ein echtes Brett geworden, dass in meinen Ohren zunächst nur sehr gut war und mit jedem Durchlauf besser wird. Dann mein Höhepunkt auf dem Album, auch wenn es bereits vor dem Album erschienen war: „Sapphire“ wuchte ich nach gefühlten 100 Durchläufen in meine Top3 Lieblingslieder von Alcest. Nein, es bietet nicht viel Abwechslung, wiederholt sich eigentlich nach dem Intro nur 3mal mit leichter Steigerung in der Dramatik und ist dennoch absolut zauberhaft. „L'île des morts“ erinnert in Härte, Aufbau und Dauer am deutlichsten an die ersten drei Alben und leitet damit stark die zweite Albumhälfte ein, mit „Le miroir“ folgt der sanfteste und für mich schwächste Song, eine Post Rock Nummer, die mit finster schwelender Bedrohlichkeit die Dramatik immer weiter steigert um dann doch zu verstummen. Ein Filler, der gerne Platz machen kann für den großen Abschluss: der Titeltrack mach noch einmal (fast) alles richtig und verabschiedet den Hörer über sieben Minuten mitreißend und dem Album würdig und vor allem die letzten zwei Minuten vereinen noch einmal all das, was Fans an der Band lieben.

Tja, ich kann nicht sagen, wie sich das Album mit den Jahren in den Kanon der bisherigen Werke einsortieren wird. Ich sah 'Les voyages de l'âme' damals als perfekte Scheibe an, die ich aber mit der Zeit zwar keines falls für schlecht erachte, aber weitaus weniger höre als anfangs vermutet. 'Kodama' hingegen brauchte ganz viel Zeit, ist aber inzwischen mein liebstes Alcest-Album – ich wage also nicht zu deuten, wie sehr ich 'Spiritual instinct' in 5 Jahren bejubeln werde. Aber bejubeln ansich kann ich es sicherlich auch heute bereits, denn Neige und Winterhalter haben erneut gezaubert und ein Album geschaffen, dass ihren Klangkosmos nicht verlässt und trotzdem nicht nach Wiederholung klingt. Nur nach Alcest. Und das ist verdammt gut so.