Alcest sind zurück und Mastermind Neige macht auf Kodama klar, dass er nicht nur sein Projekt, seinen Sound zielstrebig weiterentwickelt, ohne ihn zu verunstalten, sondern dass er es sich erlauben kann, die Hörerschaft trotz hohem Bekanntheitsgrades herauszufordern. Ich beendete vor zwei Jahren meine Zeilen zu Shelter mit den Worten „Vielleicht bringt Album Nummer 5 ja dann Klarheit, wen oder was Alcest zur Zeit darstellen soll[...]“, ein Album, das durch seine Sanftheit und das optimistisch-komprimierte Songwriting zwar nicht schlecht, aber schlichtweg nicht so nachhaltig in meinem Gehör hängenblieb wie die ersten drei Alben. Heute kann ich sagen, dass Alcest dieses „vielleicht“ für mich in ein „ganz sicher“ verwandelt haben. Kodama ist ein bezauberndes Werk, das in vielen Punkten an Shelter anknüpft, den Klangkosmos aber wieder mehr erweitert und in seiner Gesamtheit stimmiger nach Alcest klingt. Inhaltlich nähert sich Kodama (jap. für Baumgeist oder Echo) dem Weg Prinzessin Mononokes aus dem gleichnamigen Anime aus dem Jahre 1997 und „dreht sich im Kern um das Gefühl der Nichtzugehörigkeit: das Leben zwischen den Welten, zwischen Stadt und Natur, zwischen dem körperlichen und dem spirituellen Dasein (Auszug aus dem Promotext)“. Thematisch also wieder etwas düsterer ist Kodama dennoch eine Weiterführung der Entwicklung, die mit Shelter begann. Alcest sind gelöster, treibender und eher im Shoegaze/Post Rock verankert, das Songwriting zielt weniger auf große Effekte und deutliche Refrains, sondern treibt auf einer Woge der emotionalen Sehnsucht dahin. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn Neige überraschenderweise zu gelassen vor sich hin schwirrenden Riffs faucht, als ob er nie etwas anderes gemacht hat. Diese kurzen Momente vokaler Rückbesinnung an etwas schwarzmetallischere Zeiten sind aber eigentlich das einzige, das bei genauerer Analyse an früher erinnert, denn musikalisch klingt Alcest zu jeder Zeit fortentwickelt, sanft. Mir gefällt insbesondere die akustische Dichte auf Albumlänge, die es zwar erschwert, einzelne Lieder, einzelne Momente hervorzuheben, die Kodama aber zu einem stimmigen Gesamtkunstwerk machen – auch hier eine deutliche Entwicklung, wenn auch, wie eingangs angesprochen, eine Herausforderung für den Hörer. Der erste Durchlauf ließ mich ernüchtert aufschrecken – wie, kein Hit? Kreischen ja, aber auch nicht so richtig. Mmmh. Doch dieser erste Eindruck ist jetzt ganz weit weg, denn mit jedem Durchlauf bin ich mitgerissener, überzeugter und begeisterter. Einzig der Vergleich mit den ersten Alben fällt mir schwer – Kodama ist ganz eindeutig Alcest, doch in der Zielsetzung und den musikalischen Strukturen geht Neige heute ganz andere Wege. Ein (trotz kurzen Eskapaden) stilles Album, ein tolles Album.